NACH OBEN

Auf der Such nach den richtigen Worten

Normalerweise braucht es eine gewisse zeitliche Distanz, damit Themen ins Visier der Geschichtswissenschaft kommen. Die Pandemie ist da ein besonderer Fall. Sie ist einerseits noch gar nicht Geschichte, weil das Virus weiter zirkuliert und seine Folgen weiter Menschenleben kosten. Andererseits ist das Geschehen erstaunlich rasch aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Es gibt kein ritualisiertes Gedenken und kein zugkräftiges Narrativ. Die meisten Menschen sehen die Pandemie in erster Linie als eine richtig doofe Sache, die nun zum Glück in der Vergangenheit liegt. Anscheinend hat das Virus nicht nur unsere Vorstellungskraft herausgefordert, sondern auch unser Bestreben, Geschichte sinnhaft zu erzählen.

Dieses Kolloquium ist der Versuch, diese Sprachlosigkeit zu überwinden und die richtigen Worte zu finden – wissend, dass jeder Vorschlag auf absehbare Zeit das Signum des Vorläufigen tragen wird. Damit die Worte nicht gleich wieder verhallen, gibt es diesen Blog, der die einzelnen Sitzungen dokumentiert. Er bilanziert in kurzer Form den jeweiligen Vortrag, die Diskussion und die Nachgedanken des Lehrstuhlinhabers in der Hoffnung, dass in der Gesamtschau eine Entwicklung zu etwas mehr Klarheit erkennbar sein wird. Es ist jedoch auch denkbar, dass dieser Blog eher eine wachsende Ratlosigkeit dokumentieren wird. Aber das wäre ja vielleicht auch ein interessantes Ergebnis.

Beobachtungen und Nachgedanken zu den Sitzungen des Corona-Kolloquiums von Frank Uekötter

18. Juli
Heute Vormittag fiel eine Referentin in meinem Hauptseminar kurzfristig aus: Der Corona-Test war positiv ausgefallen. Das Virus ist immer noch unter uns, und es produziert ausweislich dieses Kolloquiums auch weiterhin Ideen. Umso wichtiger war das heutige Gespräch mit einer Person, die in der Pandemie Entscheidungen treffen musste. Ingrid Rihs arbeitet seit 15 Jahren im Gesundheitsamt der Stadt Bochum, es war nach eigenem Bekunden nie langweilig, aber Corona war eine ganz und gar einzigartige Erfahrung. Der Krisenstab der Stadt Bochum tagte am Anfang dreimal täglich und brachte es schließlich auf 763 Sitzungen, und das war Teil eines bürokratischen Kraftakts sondergleichen. Was macht man, wenn alle Notfallpläne zur Makulatur werden, die Vorgaben ständig fluktuieren und die Telefone heiß laufen? Man funktioniert. Auf 2500 pandemische Überstunden muss man auch erst einmal kommen.
Vor Corona hatte das Team Infektionsschutz des Gesundheitsamts in Bochum weniger als zehn Mitarbeiter. Dann kamen Menschen aus anderen Ämtern, vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, von der Bundeswehr. Es gab auch Studierende der Uni und Zeitarbeiter, und so arbeiteten in der Spitze 150 Leute für den Bereich. Sie alle brauchten einen Arbeitsvertrag, ein Büro, Schulungen und Instruktionen, und das alles bei ganz unterschiedlichem Vorverständnis und hoher Fluktuationsrate. Natürlich musste nach Auslaufen der Verträge auch noch ein Arbeitszeugnis geschrieben werden, während sich Medienvertreter über Behördenmenschen ergötzten, die an Faxgeräten standen (im Bochumer Fall zu Unrecht: Dort wurde während der Pandemie kein einziges Fax ausgedruckt, weil solche Einsendungen digital verarbeitet wurden). Unterdessen starben Menschen. Bochum kam auf fast 700 Todesfälle.
Der erste Bochumer Corona-Fall war ein Pärchen aus Ischgl. Dann kamen ein paar der 1067 Krankheitsfälle, die die berühmte Karnevalssitzung in Heinsberg produzierte, und das waren nur die Vorboten für das, was Rihs als „Tsunami“ titulierte. Vor der Pandemie gab es kein einheitliches Muster für die Ausstattung der 53 Gesundheitsämter im Land Nordrhein-Westfalen, und im Wirbel der Ereignisse war kaum Zeit für irgendwelche Seitenblicke. Datenbanken wollten erstellt und gefüttert werden, Testzentren bedurften der Genehmigung und Überwachung, gesundheitlich bedenkliche Situationen waren zu begutachten, und dann waren da noch die zahllosen Telefonate im Dienste einer Mission, die seinerzeit den deutschen Wortschatz bereicherte: Kontaktpersonennachverfolgung. Das waren im Kern freundliche Ermahnungen, die Sanktionsmittel der Staatsgewalt blieben für die krassen Fälle reserviert. Behörden sind in Deutschland nicht stupide Exekutivorgane, sie haben ihre Ermessensspielräume, und die nutzte das Bochumer Gesundheitsamt im Sinne des gesunden Menschenverstands. Man kannte die Stadt und ihre Leute.
So war das Bochumer Gesundheitsamt auch eine Art Puffer für einen Politikbetrieb, der neue Vorgaben gerne auch mal per Talkshow in die Welt brachte, während Behördenmenschen auf klare Anweisungen auf dem Dienstweg warteten. Die kakophone Kommunikationsmaschinerie war ein großes Ärgernis und der Föderalismus erst recht, und vor allem versemmelte Deutschland den Übergang von der ersten Phase, in der es vor allem auf die Bremsung der Ausbreitungsdynamik ankam, zu einer zweiten Phase, in der sich der Schutz auf vulnerable Gruppen hätte konzentrieren müssen. Die Angst vor der Überlastung des Gesundheitssystems, das typisch deutsche Sicherheitsbedürfnis, die Sorgen des Lehrpersonals – auch Rihs kritisierte die lange Schließung von Schulen und Kitas und die Isolierung der Alten. Die Frage nach einem Hauptverantwortlichen ließ sie unbeantwortet, was wohl einiges über die Diffusion von Verantwortung im politischen System der Bundesrepublik sagte. Wenn viele Stellen irgendwie an einer Entscheidung mitwursteln können, wird die Zuweisung von Schuld ein Akt der Willkür.
Rihs wünscht sich eine unvoreingenommene Evaluation des Geschehens, eine allfällige Forderung von ungewöhnlicher Seite. Eigentlich sind deutsche Behörden ja eher geneigt, den Kimono geschlossen zu halten. Hoffungsvoll ist sie dabei nicht gerade. Über desaströse Kommunikation wurde bereits bei der Schweinegrippe geklagt, ohne dass sich danach viel änderte. So bleibt im Moment die bürokratische Kärrnerarbeit. Die Digitalisierung erfuhr durch Corona einen Schub, und so geht es beim nächsten Mal vielleicht ohne Flipcharts und Anrufe bei benachbarten Gesundheitsämtern. Neu ist auch die Untersuchung des Abwassers auf Viren, denn eine Welle im Abwasser läuft der Krankheitswelle etwa zwei Wochen voraus. Aber ob das einen Unterschied macht, wenn das nächste üble Virus auf Weltreise geht?
Der Vortrag war ein würdiger Abschluss eines denkwürdigen Kolloquiums, und doch sei am Ende ein Gefühl dokumentiert, das man als Akademiker neuerdings häufiger hat. Es fehlt nicht an Vorschlägen und an moralischer Betroffenheit, und die Quellen, die dem Historiker berufsbedingt am Herzen liegen, sind auch nicht gerade knapp. Aber es sind nur Worte, die in einem politischen Alltag versanden, der von der stillen Überzeugung geprägt ist, dass man Strukturprobleme am besten aussitzt. Das letzte Wort der Regierung ist bei Corona ein volltönendes Schweigen.

11. Juli
Bei medizinischen Problemen geht man eigentlich erst mal zum Arzt. Unser Kolloquium rückt bereit ins Abendrot der nahenden Semesterferien (was sich auch in einem zunehmend legeren Umgang mit Metaphern dokumentiert), und so war es höchste Zeit für ein paar Worte von einem Dr. med. Die Referentin dieser Woche, Marie von Lilienfeld-Toal, ist seit dem vergangenen Jahr Professorin an der RUB und baut ein Institut für Diversitätsmedizin auf – das erste an einer deutschen Universität. Bei der Gründung half die Sensibilisierung durch die Pandemie, obwohl sie inzwischen eher der Meinung ist, dass es nach COVID-19 schwieriger geworden ist, über unterschiedliche Gesundheitswelten und Gesundheitsideale zu reden. Sofern es im Seminarraum noch letzte Restbestände der Vorstellung gab, die Pandemie habe eine Gemeinschaft von Gleichen geschaffen, waren sie nach dieser Sitzung obsolet.
Am Anfang stand jedoch eine unerwartete deutsch-deutsche Lernerfahrung. Lilienfeld-Toal hat die Pandemie im thüringischen Jena verbracht, und als praktizierende Ärztin bekam sie tiefe Einblicke in ostdeutsche Gedankenwelten. In Jena bröckelte es schon früh: Die glücklich bewältigte erste Welle sah in ihrer Schilderung sehr viel ambivalenter aus. Später wünschten sich ostdeutsche Patienten den russischen Sputnik-Impfstoff, ein spätes Echo von DDR-Zeiten, in denen die medizinische Versorgung an sowjetischen Errungenschaften hing. Llienfeld-Toal hätte den Sputnik-Impfstoff zugelassen, und sie weiß, woran das scheiterte: an der Arroganz von Wissenschaftlern, für die wissenschaftliche Impulse grundsätzlich aus einer anderen Himmelsrichtung kamen. Als sie die Zulassung des Sputnik-Impfstoffs in einer Sitzung vorschlug, erntete sie höhnisches Gelächter. Das lief auf ein wichtiges Addendum zur These des Berichterstatters hinaus, die Pandemie wecke Zweifel am gängigen Narrativ vom Niedergang der westlichen Hegemonie. Der Westen war vielleicht das Maß aller Dinge – aber das war in mancherlei Beziehung vielleicht eher ein Problem.
Bis zu diesem Punkt war die heutige Sitzung ein erhellender Perspektivwechsel. Die Grenzen westlicher Ägide finden sich bereits jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs, und die in Thüringen vorzufindenden Haltungen waren nicht frei von Spannungen. Die niedrige Impfquote wurzelte so gesehen auch in einer Sehnsucht nach Impfstoffen, die dem DDR-Topos der Wissenschaftlich-Technischen Revolution gerecht wurden. Kontroverser wurde es, als Lilienfeld-Toal forderte, die gängigen Vorstellungen von körperlicher Normalität zu hinterfragen. War das eine libertäre Fantasie oder gar eine Einladung an alle, die in Zeiten knapper Kassen nach Kürzungsmöglichkeiten suchen? Braucht man noch Behandlungen von Long COVID, wenn Normalität nicht mehr ist als eine schädliche Fiktion?
Die Frage rührte an den Kern von Lilienfeld-Toals Professur, und entsprechend dezidiert fielen die Antworten aus. Die berühmte Gesundheits-Definition der WHO – „ein Zustand vollkommenen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ – fand Lilienfeld-Toal völlig unbefriedigend. Für sie war Gesundheit der Zustand, wo Menschen keine zusätzliche medizinische Betreuung brauchten. Es ging auch nicht um eine Lizenz zum gesundheitlichen Egoismus, denn das Auslegen persönlicher Freiheit konnte auf Kosten anderer Menschen gehen. Deshalb äußerte sie auch Verständnis für eine Impfpflicht für alle, die im Gesundheitswesen arbeiteten. Eine allgemeine Impfpflicht lehnt sie rundum ab, aber niemand ist ja verpflichtet, einen Job im Gesundheitswesen anzunehmen. Außerdem war Lilienfeld-Toal für eine pauschale Vorschrift von Masken im öffentlichen Nahverkehr während der Winterzeit. Vor allem wies sie jedoch darauf hin, dass sie nicht als Laborwissenschaftlerin oder Statistikerin sprach, sondern als eine praktizierende Ärztin, die täglich Menschen mit Krebserkrankungen und anderen gesundheitlichen Problemen gegenübersitzt. Da weiß sie aus Erfahrung: Keiner ihrer PatientInnen hält sich hundertprozentig an die Vorgaben einer medizinischen Autorität.
So wurde aus der Sprechstunde beim Dr. med. eine Aufforderung, grundsätzlicher über unsere Erwartungen an Gesundheit und Körperlichkeit nachzudenken. Ob das bis zur nächsten Pandemie Ergebnisse hervorbringt, die politischen Entscheidungen eine neue Grundlage verleihen, mochte man nach dem heutigen Gespräch eher bezweifeln. Ein einzelnes Institut für Diversitätsmedizin macht noch keine kognitive Revolution. Aber dafür sind wir an der Universität ja auch da: Denken jenseits der Komfortzone. Ich bin schon gespannt auf das Gespräch in der kommenden Woche. Ob Frau Rihs vom Bochumer Gesundheitsamt mit solchen Ideen etwas anfangen kann?

5. Juli
„Ad fontes“ heißt der Schlachtruf des Historikers: Die Quellen in ihrer ganzen Vielfalt und Widerspenstigkeit sind die Grundlage unserer Arbeit. Aber diese Quellen sammeln sich nicht einfach an, sie bedürfen der Pflege, der Bewahrung, der kontextualisierenden Rahmung. Für die Alltagsgeschichte der Pandemie gibt es im deutschsprachigen Raum nichts Besseres als das Coronarchiv, dessen Mitbegründer Christian Bunnenberg heute in unserem Kolloquium sprach. Mein Bochumer Kollege lieferte eine freimütige und selbstkritische Darstellung eines fachwissenschaftlichen Experiments, das im März 2020 in den ersten Tagen des Lockdowns begann. Es waren Semesterferien, Bunnenberg ergriff die Initiative und landete zunächst da, wo zeithistorische Forschung viel zu oft landet: beim Datenschutz.
Vier Tage lang verhandelte Bunnenberg mit dem Datenschutzbeauftragten der Universität Hamburg, um das Vorgehen juristisch wasserdicht zu machen. Deshalb wurden weitaus weniger Daten von den Beiträgern abgefragt als historiographisch wünschenswert, was Interpretationen des Materials deutlich erschwert. Das Projekt stieß an Grenzen, weil sich nur ein bestimmter Zirkel für das Sammeln und Hochladen digitaler Dokumente begeistern ließ, aber über das genaue soziokulturelle Profil dieses Personenkreises konnte man nur Mutmaßungen anstellen. Das zweite Frusterlebnis mit dem Datenschutz kam nach einem Jahr, als sich herausstellte, dass die vereinbarte Zustimmungsregelung ein Problem hatte, das genug Stoff für eine rechtswissenschaftliche Prüfungsfrage bot. So verlor das Projekt 800 Objekte, weil viele Beiträger auf die klärende Email nicht reagierten.
Das Coronarchiv ist bunt, aber es ist auch das Produkt einer Bubble. Das bemerkte die Arbeitsgruppe früh, aber alle Initiativen zum Ausbruch aus den vertrauten Kreisen blieben erfolglos. Die hier versammelten Materialien zur Alltagsgeschichte der Pandemie haben damit eine offenkundige elitäre Schlagseite, und das begrenzt die Aussagekraft der versammelten Dokumente. Hinzu kommt eine gewisse chronologische Schieflage. Der große Run kam in den ersten Monaten der Pandemie, auch dank zahlreicher Berichte von Journalisten, die nach ein paar Wochen im Lockdown für jeden neuen Blickwinkel auf das Thema aller Themen dankbar waren. Der gute Archivar ist ein geborener Positivist, der keine impliziten Präferenzen oder Prioritäten zulässt, aber er muss halt mit dem leben, was hereinkommt. Außerdem beschloss das Projekt, dass diskriminierende Inhalte nicht in ein allgemein zugängliches Online-Archiv gehörten. Wer den Aufstieg der Wutbürger nachzeichnen will, muss deshalb wohl andernorts graben.
Vielleicht klänge die Bilanz positiver, wenn Bunnenberg seine Bestände mit jenen der amtlichen Politik vergliche. Inzwischen ist klar, dass wichtige Verhandlungen nur in ihren Ergebnissen dokumentiert sind, weil niemand Protokoll führte. Da können künftige Historiker rätseln, welche der Gerüchte über Verlauf und Leitfiguren tatsächlich zutreffen. Und das wohlgemerkt in einer Verwaltung, die von der Ausstattung her weniger prekär agiert als Leitung und Mitarbeiter des Coronarchiv-Projekts. Aber das ist ein anderes Thema.

20. Juni 2024

Wenn Vertreter anderer Disziplinen in einem historischen Kolloquium sprechen, dreht sich die Diskussion meist darum, ob die jeweiligen intellektuellen Koordinatensysteme zusammenpassen. Bei Michael Roos konnte man sich die Anstrengung sparen. Wenn die Wege der Volkswirtschaftslehre beim gemeinen Historiker auf Befremden stoßen, ist das für ihn kein Problem, denn das Fach ist „in schlechtem Zustand“. Roos bot einen Blick auf eine Baustelle, auf der er selbst emsig zu Werke geht. Es klang bisweilen so sehr nach Häresie, dass ich vorsichtshalber nachfragte: Darf ich das alles brühwarm in meinem Blog zitieren, auch wenn es dann vielleicht die Kollegen mitbekommen? Ich darf.
An sich fehlt es nicht an Forschungen und auch nicht an Themen für klassische wirtschaftshistorische Studien. Die konjunkturellen Folgen, die Erholung nach dem Lockdown, die Inflation und die Lieferketten, die Stützungsprogramme für Arbeitnehmer und Unternehmen, denen in der Pandemie plötzlich das Kerngeschäft flöten ging, dazu die Frage nach Umverteilungseffekten – das alles gibt es, stand hier aber nicht im Mittelpunkt. Bei solchen Forschungen fungierte die Pandemie regelmäßig als externer Schock, um den man sich nicht weiter kümmern musste, denn alle Aufmerksamkeit richtete sich auf die Folgen und die Frage, wann sich wieder ein Gleichgewichtszustand einstellen würde. Da fängt es ja schon an. Welchen Sinn hat der sehnsüchtige Blick auf kommende Gleichgewichtszustände in einer Welt voller Krisen? Ein sinnvolles Paradigma wären allenfalls multiple Gleichgewichtszustände – pandemisch, ökonomisch, sozial, mal so als Beispiel –, aber das ist unter den Kollegen nicht wirklich diskussionsfähig.
Auslöser für einen Wandel in der Volkswirtschaftslehre war Corona bislang nur sehr bedingt. Das ist insofern nicht überraschend, als eine frühere Krise ebenfalls recht nonchalant abgehakt wurde, obwohl sie viel näher an der Kernkompetenz der Wirtschaftswissenschaften lag. Die Finanzkrise 2007-9 erschütterte das Fach so sehr, dass der Londoner „Economist“ 2009 ein zerschmelzendes Lehrbuch auf den Titel hob. Das wiederum war nur eine Gelegenheit, eine längst geäußerte Kritik ernster zu nehmen. Den programmatischen Band über „Real World Economics“, der sich im Untertitel durchaus polemisch als „post-autistic economics reader“ bewarb, gab Edward Fullbrook bereits 2007 heraus. Blindheit für Institutionen, dogmatisch axiomatische Methoden, zu viel Mathematik und vor allem eine hartnäckige Weigerung, die Systemfrage zu stellen. Die Volkswirtschaftslehre als Königin der Sozialwissenschaften legitimiert sich durch mathematische Methoden, und Disruptionen lassen sich halt nicht sauber durchrechnen.
Roos skizzierte Umrisse einer ökologischen Ökonomik, die von einer Einbettung des wirtschaftlichen Geschehens in Naturkreisläufe ausgeht. Da geht es zum Beispiel um Korrelationen von Zoonosen mit der Abholung des tropischen Regenwaldes und dem Anbau von Ölpalmen – jawohl, Ökonomien können auch über Ursachen von Pandemien reden, jedenfalls über deren Wahrscheinlichkeit. Und wer nicht gleich mit der Systemfrage einsteigen will, darf sich dem Wandel von Strukturen widmen. Entscheidend ist, die enge Fokussierung auf quantifizierbares ökonomisches Wachstum zu durchbrechen und Wechselbezüge und Multidimensionalität zuzulassen.
So präsentierte Roos einen Blick, der über das Rahmenthema weit hinausging: Covid als Teil eines breiten Krisenpanoramas, in dem Krisen die neue Normalität sind. Da braucht es eine andere Ökonomie und vielleicht auch eine andere historische Forschung. Die Monokulturen, die aktuell die große Baustelle des hiesigen Chronisten sind, lassen sich ohne ständige Disruptionen nicht verstehen. Wie sieht die Agrargeschichte der Moderne aus, wenn man sie als ständigen Kampf mit allen möglichen Herausforderungen betrachtet? Aber wir wollen hier keine Eigenwerbung machen, sondern vielmehr Werbung für neue Ideen aus der Nachbarschaft. Bei Roos folgt auf das Ende seines Vortrags nämlich nahtlos die sorgfältige Lektüre.
Über seinen Gegenentwurf sprach Roos in unserem Kolloquium nur wenig. Das ist insofern verzeihlich, als er in wenigen Wochen ein gewichtiges Buch veröffentlichen wird: „Principles of Complexity Economics“. Wer einmal einen Autor am Vorabend seines Opus magnum erlebt hat, wird dankbar sein: Nie ist der Wissenschaftler so nah dran am Predigergestus als in solchen Situationen. Roos ging schon etwas in diese Richtung, als er zum Ende sagte: „Weitere Krisen werden folgen müssen.“ Aber vielleicht kommt man ja auch weiter, wenn man ein gutes wirtschaftswissenschaftliches Buch liest?

13. Juni 2024

Das Corona-Kolloquium ist eine Veranstaltung, in der laufende Forschungen präsentiert und diskutiert werden. Dabei diskutieren wir gemäß den wissenschaftlichen Gepflogenheiten offen und ohne zwingenden Bezug auf tagesaktuelle Themen. Das erwähne ich an dieser Stelle, weil die heutige Sitzung die größte Annäherung an ein ganz normales Kolloquium in diesem Semester ist. Ein Doktorand präsentiert sein Projekt, es geht um ansteckende Krankheiten im ausgehenden 18. Jahrhundert. Alles total unspektakulär.
Dirk Modler promoviert an der Ruhr-Universität über das Militärsanitätswesen im Rheinland während des Ersten Koalitionskriegs. Die erste Folie zeigte die nordrhein-westfälische Corona-Verordnung vom 10. November 2020, aber das war der Einstieg in einen Vortrag, der zwanghafte Gegenwartsbezüge vermied. Es wäre ja auch schon ein wenig peinlich, wenn jetzt die Seuchengeschichte, ein durchaus etabliertes Feld der Medizin- und Gesundheitsgeschichte, nach COVID-19 in hektisches Hyperventilieren verfallen würde. Die in der zweiten Sitzung geäußerte Vermutung, dass Analogieschlüsse für die jüngste Pandemie von begrenztem analytischem Wert seien, gilt auch nach der heutigen Sitzung.
Die Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts unterschied sich schon ein wenig von der globalen Moderne. Es gab noch Miasmen oder jedenfalls den Glauben an selbige. Es gab auch Soldaten, die zwangsweise in Privatwohnungen untergebracht wurden. Krankheitserreger zirkulierten nicht global, sondern dort, wo viele Soldaten auf engem Raum zusammengepfercht waren, darunter etliche mit üblen Verletzungen. Die hurtig geschaffenen Lazarette waren durchaus unwirtliche Orte. Eine der Geschichten handelte von Soldaten, die Feuer legten, um ihrem Krankenlager zu entkommen. Andererseits sieht man schon einen emsig agierenden Staatsapparat, der Gutachten von medizinischen Fakultäten anfordert, und Diskussionen über ordentliches Lüften. Für naive Aktualisierungen hätte es mehr als einen Ansatzpunkt gegeben, aber das blieb dem Referenten erspart. Wir sind schließlich solide Wissenschaftler.
Das „Militärsanitätswesen“ im Titel der Dissertation klingt nach einem strengen Blick von oben. Aber nach Vortrag und Diskussion spricht vieles für eine Seuchengeschichte von unten. Das gilt nicht zuletzt für die Quellenlage. Es ist nicht trivial, einen Brandstifter nach 230 Jahren zu überführen, oder die Wege von Tagelöhnern vom Lazarett zur Familie zu verfolgen. Es gibt auch Tagebücher, aufbewahrt von deutschen Patrioten nach dem Ende von dem, was damals „Befreiungskriege“ hieß. Wieder einmal schafften Männer im Rahmen des „nation-buildings“ Voraussetzungen für historische Forschungen, die man auch dann dankbar nutzen kann, wenn man selbst eher postnational gepolt ist. Aber es gibt auch Quellen, die nie für die Ewigkeit gedacht waren, so etwa die Inventarlisten der Lazarette. Neben den Soldaten sind auch Frauen und Familien dokumentiert, die manchmal auch nach dem Tod des Mannes Teil der soldatischen Gemeinschaft blieben.
In der Bibel kamen Seuchen auch mal als Gottesstrafe vor, und in vormodernen Zeiten zog so mancher Seuchenzug eifrige Bußfertigkeit nach sich. Von solchen Reflexen war im späten 18. Jahrhundert anscheinend nicht mehr viel übrig. Das Religiöse ist in den Quellen kaum präsent, die Möglichkeit der Ansteckung war aus vergangenen Kriegen vertraut, und die Routinen zur Minimierung der Krankheitsgefahr wirken aus heutiger Sicht bemerkenswert rational. Es gab Visionen eines perfekten Hygieneregiments in der Literatur, aber das wirkte eher wie aufklärerische Träumereien, die an den Realitäten des Krieges vorbeigingen. Im Kern präsentierte Modler eine Geschichte der Improvisation, des Durchwurstelns in schlechten Zeiten und nicht zuletzt des massenhaften Sterbens in Kriegen, die den meisten Kämpfenden ziemlich sinnlos vorkamen. Die klaren Linien entwickelten sich erst, als sich die Patrioten des Themas annahmen.

6. Juni 2024

Das Semester geht seinen Gang, und dennoch gab es wochenlang kein Kolloquium. Grund sind nicht nur die donnerstäglichen Feiertage und die Pfingstferien, sondern zwei Ausfälle: einmal durch Erkrankung der Referentin und einmal durch die Vorträge im Rahmen der Berufungskommission „Arabic Studies“. Heute ging es endlich weiter mit Cécile Stehrenberger, Juniorprofessorin für historisch-komparative Wissenschafts- und Technikforschung an der Bergischen Universität Wuppertal, und bis zum Ende der Vorlesungszeit regiert der Wochentakt – einmal vorausgesetzt, es passiert nicht noch etwas Unerwartetes. Das ist insofern keine Floskel, als ich heute mit Krücken in die Sitzung humpelte: Bänderdehnung nach einem Malheur auf der U-Bahn-Treppe. Hier können Sie jetzt Ihre eigenen Gedanken über historische Kontingenz einfügen.
Die heutige Sitzung war zugleich Teil eines laufenden Seminars von Cécile Stehrenberger, und deshalb waren auch einige StudentInnen aus Wuppertal in der Sitzung – sowohl physisch als auch über Zoom. Das schuf eine gewisse diskursive Vielschichtigkeit bei einem Thema, das ohnehin zur Vielschichtigkeit neigt. Man kann die sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung als historisches Thema analysieren, als Urimpuls eines Forschungsfeldes oder als Lieferant von potentiell hilfreichen Konzepten und Begriffen. Oder man kann das alles irgendwie vermischen. Bei uns lief es auf die letzte Option hinaus.
Ausgangspunkt des Vortrags war die sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung, wie sie sich in den USA in der Zeit des Kalten Krieges etablierte. Bis heute gibt es an der University of Delaware ein Disaster Research Center, das auf eine Gründung im frühen Kalten Krieg zurückgeht und an dem Stehrenberger einige Zeit als Historikerin zu Gast war. Damals wollte das US-Militär wissen, wie Menschen auf eine nukleare Katastrophe reagieren würden. Das war ein Erkenntnisinteresse, das sich über die vergangenen 70 Jahre als durchaus entwicklungsfähig erwies.
Man kann die Befunde vielleicht so bilanzieren: Wenn wir uns in der Pandemie orientierungslos fühlten, dann lag das gewiss nicht am Fehlen einer sozialwissenschaftlichen Forschungstradition. Vieles wirkte vor diesem Hintergrund durchaus vertraut, so etwa die Konstruktion eines solidarischen „Wir“ und das Versprechen eines Lernens aus der Katastrophe, das Stehrenberger anhand einer Explosionskatastrophe im mexikanischen Guadalajara 1992 nachzeichnete. Auch der Übergang von einem Verständnis, das Katastrophen als kurzfristige Ereignisse sah, zum „slow disaster“ à la COVID-19 deutete sich bereits seit einigen Jahren an. Polykrise, cascading disaster, die Katastrophe als Labor, der Mythos der kopflosen Panik und der traumatisierten und darob behandlungsbedürftigen Opfer – an Konzepten und Begriffen mangelte es einschlägig qualifizierten Sozialforschern nicht. Selbst die Resilienz war in Fachkreisen viel länger vertraut als im allgemeinen Sprachgebrauch.
Wäre man mit diesem Methodenarsenal besser durch die Pandemie gekommen? Es hätte zumindest geholfen, die dominierende Blindheit für soziale Ungleichheit zu konterkarieren. Nein, das Virus machte nicht alle Menschen zu einer homogenen Masse potentiell Erkrankender. Das Sensorium für soziokulturelle Trennlinien gab es schon früh, schon in den 1960er Jahren schauten die Sozialwissenschaftler auf eine fragmentierte Gesellschaft, und es gab auch schon Desinformation. Da schrumpfen die Aluhüte auf eine modische Innovation.
Das ursprüngliche Ziel, praktisches Regulierungswissen zu generieren, verblasste unter den Katastrophenforschern recht schnell. Das lag an den Ambitionen mancher Soziologen, die sich für katastrophale Ereignisse eher als Katalysatoren der Theoriebildung interessierten, aber auch an unrealistischen Erwartungen. Sozialtechnische Erwartungen, man könnte mit dem richtigen Wissen „Menschen richtig einstellen“, dokumentieren aus heutiger Sicht nur noch eine naive Wissenschaftsgläubigkeit. Mit Lutz Raphael kann man von einer längst vollzogenen Versozialwissenschaftlichung der Katastrophe sprechen, aber das reichte anscheinend nicht für einen Kult-Status. Die Star-Experten der Pandemie waren die Virologen und die Impfforscher. So läuft das halt mit Disruptionen im Zeitalter von MINT.

25. April 2024

Nach 9/11 prägte Donald Rumsfeld den Begriff „unknown unknowns“. Es gebe im Kampf gegen den Terror gesichertes Wissen und gesichertes Unwissen, aber die größten Kopfschmerzen bereitete dem damaligen Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten das fehlende Wissen über die Dinge, die sie nicht kannten, aber kennen sollten. „Die Pandemie war voll“ von solchen „unknown unknowns“, sagte der Politikwissenschaftler Martin Florack vom Wissenschaftscampus NRW in Oberhausen in der heutigen Sitzung. Das war Teil eines bemerkenswert skeptischen Blicks auf die Rolle der Wissenschaft in der Pandemie. Es blieb nicht viel von der technokratischen Versuchung, aus dem Wissen der Experten klare Handlungsanweisungen zu destillieren, und das war wohl auch gut so. Wissenschaftliche Expertise könne und dürfe politische Entscheidungen nicht ersetzen, so Florack.
Aber wo war die politische Leitfigur, die die Notsituation zum energischen Regierungshandeln und auch zur eigenen Profilierung als entscheidungsfreudiger, durchsetzungsstarker Politiker nutzte? Die Stunde der Exekutive scheint auf Dauer keinem westlichen Politiker einen Karriereschub vermittelt zu haben, obwohl das doch bei früheren Großkrisen zum Standardprogramm westlicher Demokratien gehörte: Die existentielle Situation machte den Staatsmann. Oder ist das vielleicht ein archaisch-überzogene Erwartung? Florack verwies auf die Fernsehansprache Angela Merkels, die messbar zur Beruhigung der Gemüter beitrug und immerhin ein Jahr lang nachwirkte. Und ein Jahr war in der Pandemie ja schon eine ziemlich lange Zeit.
Florack war einer der Herausgeber des Aufsatzbands „Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten“, der 2021 bei Campus erschien und ein buntes Spektrum von Stimmen aus der Politikwissenschaft und angrenzenden Wissensfeldern versammelte. Auch hier zeigte sich, wie die Corona-Pandemie laufende Entwicklungen beschleunigen und zumindest zeitweise eskalieren ließ. Gesellschaftliche Kommunikation, Entscheidungsfindung und Entscheidungskompetenzen, Status wissenschaftlicher Expertise – es waren viele vertraute Fragen, die unter dem Eindruck des Lockdowns eine neue Dringlichkeit gewannen und entsprechend in diesem Band diskutiert werden. Nur die Verteilungsgerechtigkeit machte eine Pause, wie Peter Graf Kielmannsegg in seinem Beitrag bemerkte. Es gab Menschen, die in der Pandemie ihr Einkommen verloren und andere, die es ohne Abzüge weiterbezogen, aber interessanterweise fand „die Politik nirgendwo den Mut […], den Gedanken eines solidarischen Ausgleichs zwischen diesen beiden Gruppen auch nur ins Gespräch zu bringen. Sie zog es vor, die vielgerühmte Krisensolidarität der Menschen nicht wirklich zu erproben.“ (Peter Graf Kielmannsegg, Belagerte Demokratie: Legitimität in unsicheren Zeiten, in: Martin Florack, Karl-Rudolf Korte, Julia Schwanholz [Hg.], Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten, Frankfurt 2021, S. 43-50; S. 45.)
Auch die Krisenrhetorik, die Florack in seinem Vortrag ausführlich diskutierte, war schon vor der Pandemie gut etabliert und erlebte dann ab März 2020 ein schrilles Crescendo. Florack sah die Gefahr einer inflationären Verwendung, die Loslösung von Entscheidungen aus dem politischen Normalbetrieb und den Abnutzungseffekt: Irgendwann war auch die dramatischste Krise irgendwie normal – die Klimakrise ließ grüßen. Zu diesen Bemerkungen starrten die Zuhörer minutenlang auf ein Bild des wütenden Hulk, aber irgendwie wirkte die Corona-Krise im Vergleich mit dem Erregungszustand des grünen Mutanten nicht mehr ganz so brisant. Es gab eine Menge Ärger und jede Menge Frust, aber von einem blindwütigen Amoklauf war die Politik dann doch ein gutes Stück entfernt. Es war nicht lustig, dass ein Donald Trump über das Injizieren von Desinfektionsmittel salbaderte (zumal einige Menschen anscheinend unter dem Eindruck der Worte des Präsidenten Desinfektionsmittel schluckten und daran verstarben), aber das war zumindest keine Bedrohung der amerikanischen Demokratie. Florack wies darauf hin, dass in der Pandemie die Ministerpräsidentenkonferenz, eigentlich ein reines Ländergremium, durch Einbeziehung der Bundesregierung als Bund-Länder-Konferenz zum maßgeblichen Organ der pandemischen Regulierung wurde, obwohl es weder Verfassungsrang noch förmliche Entscheidungskompetenz besaß. Aber wahrscheinlich braucht man schon einen Aluhut, um das skandalös zu finden.
Krise ist kein schönes Wort und auch kein sehr präzises: Florack nannte es „schön fluffig“. Es hätte markige Alternativen gegeben: zum Beispiel Katastrophe oder – Achtung, es Carl Schmitt-et – Ausnahmezustand. Zum Glück bot das Grundgesetz keine Möglichkeit, aufgrund eines Seuchengeschehens die Notstands-Artikel zu aktivieren, und so blieb den Grundrechten zumindest dieser Stresstest erspart. Im erwähnten Band warf die Mitherausgeberin Julia Schwanholz die Frage auf, ob der Gesetzgeber „das Grundgesetz um eine entsprechende Klausel erweitern will“ (Julia Schwanholz, Die Corona-Pandemie 2020: Befindet sich Deutschland im Ausnahmezustand?, in: Martin Florack, Karl-Rudolf Korte, Julia Schwanholz [Hg.], Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten, Frankfurt 2021, S. 61-69; S. 68), aber dazu verspürt augenscheinlich niemand Lust. Vielleicht hat das rasche Verblassen der Pandemie auch seine guten Seiten.
Was bleibt dann von der Pandemie? Floracks Lektüreempfehlungen betrafen Bücher, die vor Corona erschienen, so etwa Dietrich Dörners „Die Logik des Misslingens“ und „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz. Ein literarischer Coup wie Ulrich Becks „Risikogesellschaft“, die nach Tschernobyl auf dem Buchmarkt einschlug und jahrzehntelang nachhallte, ist offenbar niemandem gelungen. Stattdessen las man im Lockdown „Die Pest“ von Albert Camus oder Marc Blochs „Die seltsame Niederlage“ (letzteres ein Spiegel der Kriegsrhetorik, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in seiner Rede an die französische Nation mobilisiert hatte). Vielleicht braucht es ja ein paar Jahre Zeit und einen ordentlichen Historiker, aber dann ist es für ein ikonisches Wert wohl zu spät. Die Eule der Minerva fliegt erst in der Dämmerung, und dann ist es ja auch schnell zappenduster.
So bleibt nach drei Sitzungen, in denen die Regierungspolitik im Mittelpunkt stand, der Eindruck, dass sich westliche Regierungen mit viel Geld und ordentlichem Patchworking schon irgendwie durchgewurstelt haben. Die Fieberkurve stieg im zweiten Lockdown (Winter 2020/21) schon spürbar an, aber letztlich blieben die Werte unter der roten Schwelle, und letztlich kann man nur spekulieren, ob sich bei längerer Dauer der Krise eine vorrevolutionäre Stimmung entwickelt hätte. Für die zukünftige Corona-Geschichtsschreibung wird das Nachdenken über Zeit wichtig sein. Alle Beschränkungen waren nur möglich, weil sie für begrenzte Zeit gedacht waren und weil sie mit sehr kurzer Bedenkzeit beschlossen wurden. Entscheidungsstress, Schlafmangel, Versagensangst – zur Politikgeschichte von Corona gehören auch emotionale Zustände, die selbst in einem hektischen Politikerleben exzeptionell sind. Die Zeiten waren nicht normal – der Satz könnte in seiner ganzen Vielschichtigkeit ein Leitmotiv der Corona-Geschichte werden.
Aber vielleicht lohnt es sich, einmal eine Pause von der großen Corona-Politik zu nehmen. In der kommenden Woche berichtet die Psychologin Maike Luhmann über ihre Forschungen zur Einsamkeit. Da werden wir Historiker zuhören, ob sich da Wege für eine Corona-Geschichte von unten präsentieren.

18. April 2024

Heute kam der erste Gast in das Corona-Kolloquium, und es bedarf keiner ausführlichen Begründung, warum meine Wahl auf den Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte Malte Thießen fiel. Im Herbst 2021 hatte Thießen unter dem Titel „Auf Abstand“ eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie vorgelegt, übrigens begleitet von erheblichem Grummeln unter den Fachkollegen, dass es für eine solche Darstellung noch viel zu früh sei. Die Idee kam seinerzeit vom Campus-Lektor Jürgen Hotz, der Thießen ansprach, weil dieser sich ein paar Jahre zuvor mit einer Studie über das Impfen im 19. und 20. Jahrhundert habilitiert hatte. Seither kann ihm niemand mehr vorwerfen, ihm fehle der Mut zum Risiko.
Drei Jahre nach dem Erscheinen von „Auf Abstand“ schaute Thießen in seinem Vortrag konsequent nach vorne und diskutierte Potentiale und Perspektiven einer Corona-Geschichte. Begeistert sprach er über die Fülle digitaler Quellen, mit denen sich auch alltägliche Umgangsweise analysieren ließen, die in früheren Zeiten undokumentiert geblieben wären. Die damit verbundene Erweiterung des Blicks wog für ihn schwerer als die unvermeidliche Flüchtigkeit solcher Referenzen (einige der gezeigten Belege sind inzwischen nicht mehr verfügbar) und das Fehlen etablierter Routinen für die wissenschaftliche Dokumentation. Im Moment muss da ein Screenshot ausreichen.
In Buch und Vortrag konzentrierte sich Thießen auf Deutschland, und das verteidigte er ohne Gewissensbisse. Im nationalen und regionalen Rahmen ließen sich Ereignisse mit der nötigen Konkretion analysieren, und zudem waren nationalstaatliche Darstellungen notwendige Vorarbeiten für vergleichende Studien, die schon deshalb überfällig sind, weil die „Vergleichssucht“ (Thießen) während der Pandemie, die ständigen Seitenblicke auf andere Länder und Regierungen, geradezu nach einer nüchtern-wissenschaftlichen Aufarbeitung schreit. Wie sich in der Diskussion herausstellte, hatte Thießen sein Corona-Buch ursprünglich als Globalgeschichte konzipiert, die dann unter der Last der Aufgabe zu einer auf Deutschland fokussierten Studie wurde. Der These von Frank Biess, dass die Pandemie auch eine Projektionsfläche für Globalisierungsängste war, konnte Thießen einiges abgewinnen.
An der Aufarbeitung der Pandemie-Erfahrung sollten sich Historiker kritisch beteiligen, so etwa mit Blick auf die spürbare Sehnsucht nach Heilung durch Aufarbeitung. Ein Gesamtnarrativ sei dabei allenfalls für Episoden vertretbar, so etwa für die ersten Monate der Pandemie, für die Thießen durchaus von einer Erfolgsgeschichte sprechen wollte. Danach begannen die Ambivalenzen und Differenzen, die jedes Leitmotiv mit dicken Fragezeichen versehen. Es gab durchaus Solidarität und eine neue Vorstellung einer Gesellschaft, in der die Sorgen und Ängste von alten Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen nicht mehr so einfach marginalisiert werden konnten wie in früheren Zeiten. Die Mehrheiten für Beschränkungen der persönlichen Freiheiten blieben bis zum Ende der akuten Krise ziemlich solide, aber darauf ist die bundesdeutsche Gesellschaft anscheinend nicht richtig stolz.
Soll man da als Historiker nachhelfen, indem man neben die Schmerzen und die Kosten nun die Leistungen einer Solidargemeinschaft rückt? In seinem Buch schrieb Thießen oft mit affirmativem Tonfall über die Maßnahmen der Bundesregierung und der Länder, und dahinter stand offenkundig der Schatten der Querdenker und der Rechtspopulisten: Eine kritische Geschichte der Pandemie steht mit einer gewissen Unvermeidlichkeit im Verdacht, den Feinden der offenen Gesellschaft und der Wissenschaft nach dem Mund zu reden. Vielleicht wird sich das relativieren, wenn die Hitze des Moments sich ein wenig verflüchtigt. Oder vielleicht brauchen wir auch keinen ostentativen Kritikergestus, wenn es keinen Kardinalfehler gab? Der Angelpunkt einer revisionistischen Corona-Geschichte wäre der erste Lockdown, hastig beschlossen aufgrund von ersten Zahlen und Computersimulationen. Das war der entscheidende Schritt, der den Rahmen für alle weiteren Maßnahmen schuf, und bislang deutet viel darauf hin, dass es sich um einen vertretbaren Schritt handelte, der im zeitgenössischen Kontext geradezu eine Aura des Unvermeidlichen hatte. Was wäre wohl passiert, wenn sich diese drastischen Maßnahmen durch den weiteren Verlauf der Pandemie als überzogen herausgestellt hätten? Bislang wirkt der erste Lockdown jedoch gut legitimierbar, und damit stehen alle folgenden Einschränkungen prima facie in einem gnädigen Licht. Es musste halt sein.
Es ist schon ein wenig seltsam: Die Corona-Politik entwickelte sich in einem weitgehend präzedenzfreien Raum, der sich aber sehr schnell mit andersartigen Leitplanken füllte: durch den offenkundigen epidemiologischen Erfolg des ersten Lockdowns und die Erwartung eines Impfstoffs, der von Anfang an als Endpunkt des Elends vorgesehen war. Mit Analogieschlüssen kam man bei Corona nicht weit, ein Befund, den auch Thießen als ausgewiesener Experte für die Geschichte der Infektionskrankheiten bestätigen konnte. Dafür gab es stille Mächte, die das Spektrum der Möglichkeiten rasch schrumpfen ließen: Wissenschaftsglaube. Wohlfahrtsstaatlichkeit. Nationalstaaten als Ordnungsmächte. Corona war auch ein Lehrstück über Politik im Zeitalter von „there is no alternative“.
Als Kenner der Seuchenpolitik betonte Thießen die liberale Linie der bundesdeutschen Politik. Gemessen an dem, was laut Seuchengesetz rechtlich möglich gewesen wäre, wirken viele Regelungen recht nachsichtig. Das rückt so manche wohlpublizierte Polizeiaktion, mit der banale Verstöße unnachgiebig geahndet wurden, in ein anderes Licht. Aber wo bleibt da der kritische Stachel, den gute Wissenschaft doch eigentlich haben sollte? Im Moment scheint die Irritationsfunktion der Forschung im Corona-Kolloquium noch ausbaufähig zu sein. Aber wir fangen ja auch erst an.

11. April 2024

Vielleicht darf ich mit einem persönlichen Bekenntnis beginnen. Als ich nach der ersten Sitzung zu Hause ankam, habe ich mir erst einmal gründlich die Hände gewaschen. Das braucht man halt, wenn man zwei Stunden über Corona redet und dann in einen Stadtbahn-Wagen der Bogestra steigt, und das ist mehr als eine Anekdote. Es ist ein Spiegel unserer Situation in Frühjahr 2024. Corona verblasst, aber es braucht nur einen kleinen Impuls, und die pandemische Vergangenheit ist wieder quicklebendig.
Es gibt die Geschichte von COVID-19, und es gibt die persönlichen Geschichten. Wir sind alle Zeitzeugen in diesem Kolloquium, und deshalb haben wir in der ersten Sitzung mehr über die TeilnehmerInnen gelernt als in einem gewöhnlichen Seminar. Mein persönliches Highlight war der Erfahrungsbericht einer Studentin, die in der Pandemie Deutschunterricht für Menschen in fernen Ländern wie Mauretanien erteilt hat. Sie berichtete, wie begierig ihre Schüler auf Deutsch waren, weil sie dann nicht mehr von der Propaganda ihrer Regierungen abhingen. So gut sah der Westen aus, wenn man woanders lebte.
Ein Student sprach von der kognitiven Dissonanz beim Umgang mit COVID-19, aber das macht die Beschäftigung mit dem Thema ja auch interessant. Was reizt den Historiker mehr als ein Haufen ungeordneter Ereignisse? Zumal ja wirklich niemand an der Relevanz des Themas zweifeln kann. Keine Geschichte des frühen 21. Jahrhunderts wird die Pandemie übergehen können, und sie wird auch mehr sein als eine Episode. Die Diskussion zeigte, dass COVID-19 ein famoser Katalysator für laufende Entwicklungen war: von der Desinformation bis zum Vertrauensverlust des Staates.
Am Anfang dieser Vorlesungsreihe standen zehn Thesen, mit denen ich als Organisator des Kolloquiums ein Ereignis zu greifen suchte, das den Rahmen des kollektiven Gedächtnisses zu sprengen schien. Dabei ging es gleichermaßen um die Einordnung des Geschehens in die Geschichte der jüngsten Vergangenheit und um den Wert der historischen Expertise. In Absprache mit Malte Thießen, der in der kommenden Sitzung vorträgt, habe ich mich dabei vorrangig dem globalen Kontext gewidmet, obwohl sich die Grenze kaum trennscharf ziehen lässt – eine Erfahrung, die sich vermutlich durch die Veranstaltung ziehen wird. Wenn es um Corona geht, werden viele Dinge ziemlich schnell unscharf.

  1. Historiker können zum Verständnis der Pandemie beitragen, indem sie Fragestellungen und Perspektivierungen kritisch reflektieren.
  2. Die Pandemie war auch ein Festival spezialisierter Expertise. Das sollten HistorikerInnen nicht reproduzieren, sondern konsequent auf Kontextualisierung im gesamtgesellschaftlichen Kontext drängen: Es gibt tatsächlich nur eine Geschichte.
  3. Die Frage nach dem Ursprungsort des COVID-19-Virus wird überschätzt. Dahinter steckt eine Sehnsucht nach narrativer Eindeutigkeit und eine irreführende Projektion von menschlichen Kategorien auf nichtmenschliche Akteure. Anders als Menschen haben Viren keine Urintention.
  4. Produktiver als die Frage nach dem Ursprung ist die Frage, warum die präventive Einhegung des Virus misslang. Hier sind als wesentliche Faktoren der Wandel Chinas sowie die Krise der transnationalen Verständigung zu diskutieren.
  5. Das Mandat für präzedenzlose Maßnahmen entstand nicht nur durch medizinische Erkenntnisse, sondern auch durch global zirkulierende Bilder.
  6. In der Bekämpfung der Pandemie wurden territorialstaatliche Regierungen zur entscheidenden Instanz, die jedoch in einem engen Korridor legitimer Maßnahmen agierten, der durch transnationale Austauschprozesse entstand.
  7. Im Umgang mit der Pandemie wurden westliche Demokratien zur globalen Leitinstanz – so schnell und selbstverständlich, dass es Zweifel am gängigen Narrativ vom Ende der Hegemonie des Westens nahelegt.
  8. Die Verbindung von offener Kommunikation, individueller Initiative, wissenschaftlicher Kompetenz, Verantwortlichkeit der Regierenden gegenüber mündigen Bürgern und wohlfahrtsstaatlicher Flankierung notwendiger Einschränkungen erwies sich auch für rechtspopulistische Regierungen als alternativlos.
  9. Größtes Manko der staatlichen Politiken war der Vorrang des Quantifizierbaren. Aspekte, die sich mit Zahlen beschreiben ließen, bekamen in aller Regel Priorität vor jenen Dimensionen, die sich nicht oder nur begrenzt mit Zahlen greifen ließen.
  10. Das rasche Verblassen der Katastrophe wurde auch durch eine volltönende Sprachlosigkeit begünstigt: Es fehlen die Begriffe, die Konzepte, die Erzählungen, die nicht nur individuelle Erfahrungen wiedergeben. Die Suche nach Worten ist damit eine wesentliche Vorbereitung für die nächste Katastrophe.

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