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Blog zum Hauptseminar "Die Siedler. Eine Weltgeschichte"

28. Januar 2025
Auf der Internetseite zum Kurs findet sich ein eigener Abschnitt "vom Finden der Worte" sowie eine Trigger-Warnung. Es geht beim Siedlerkolonialismus um Gewalt und Rassismus, da wirken schlichte Worte schnell schrecklich unzulänglich. Schon bei der Frage, wie man die Menschen bezeichnet, die Opfer des Siedlerkolonialismus waren, befindet man sich auf schwankendem Boden. Es steht im Ruch der Primitivierung, von "Eingeborenen" zu reden, deshalb sprach ich von "Indigenen" – obwohl das im Prinzip nicht mehr war als "Eingeborene" als lateinisches Lehnwort. Aber es klang ein wenig akademischer, klinischer, nicht gleich so herabsetzend.
"Wir werden uns in dieser Veranstaltung deshalb immer wieder die Frage nach der richtigen Sprache stellen müssen: nach Begriffen, Metaphern und den Perspektivierungen, die in Formulierungen und Beschreibungen stecken", stand in meiner Vorbemerkung. "Das dürfte nicht ganz unkompliziert werden und auch durchaus schmerzlich: Bei der Suche nach einer neutralen, für alle Seiten akzeptablen Sprache landet man beim 'settler colonialism' leicht zwischen allen Fronten." Tatsächlich haben wir ein ganzes Hauptseminar miteinander verbracht, ohne uns einmal über den Wortgebrauch zu streiten. Wenn ich der Abschlussdiskussion trauen darf, wurde das auch überhaupt nicht vermisst. Niemand verspürte ein Verlangen nach haarspalterischen Begriffsdebatten, und es gab ein erfreuliches Bedürfnis, in einer Sprache zu sprechen, die nicht nur in der akademischen Welt verstanden wird. Terminologische Debatten sind gewöhnlich einer der besten Wege, die Zuhörer zum Abschalten zu bewegen. Und vielleicht war das Programm ja auch darauf angelegt, interessantere Diskussionen zu führen?
Es war schon eine Tour de Force: fünf Länder auf vier Kontinenten, dazu heute noch die Samen im hohen Norden Europas, zumindest mit einem Aufsatz über die Samen in Finnland eingefangen. Es brauchte einfach mal einen Blick auf eine indigene Gemeinschaft, die keine Gewaltorgien erlebte, sondern lediglich Nation-Building und Umerziehung – obwohl der Aufsatz erkennen ließ, dass selbst bei den Samen schon jemand von Genozid gesprochen hat. Bei einer solchen Zahl von Ländern fehlte zwangsläufig die Tiefe – der unvermeidliche Preis des gewählten Wegs. Es half, dass der Weg über Bücher führte: Das ersparte den Referenten den Anspruch, eine allgemein akzeptable Erzählung zu präsentieren. Es ging vielmehr um die jeweiligen Darstellungen, ihre Vorzüge und Blindstellen, und da stellte sich rasch das Bewusstsein ein, dass es eine Konsenserzählung beim Siedlerkolonialismus vielleicht nicht geben kann. Mein persönlicher Dank gilt dem Studenten, der das pädagogische Kalkül des Buch-zentrierten Ansatzes in der abschließenden Feedback-Sektion in mustergültiger Klarheit formulierte. Ja, genauso war das gedacht.
Das klingt nach Zufriedenheit am Ende der Vorlesungszeit, aber es gab da noch etwas anderes, das hoffentlich alle Studierenden empfunden haben: Diese Veranstaltung sollte vermitteln, wie sich ein Globalisierungsschock anfühlt. Plötzlich gelten die vertrauten Kategorien, Periodisierungen, Akteurskonstellationen, Erwartungen nicht mehr. Es kommen implizite Zuschreibungen ins Rutschen, es fehlt der feste Boden der vertrauten Nationalgeschichte und auch die Grundkenntnisse, die sonst kognitive Sicherheit vermitteln. Man kommt in der Weltgeschichte nicht weit, wenn man die aus der deutschen Geschichte vertrauten Standards in andere Teile der Welt mitschleppt, denn dann muss man erst mal monatelang lesen, um überhaupt sprachfähig zu werden. Das muss man halt akzeptieren, wenn man nicht tumb in vertrauten Regionen der Welt bleiben wird. Ausdrücklich wurde das auch als Erwartungshaltung für die Hausarbeiten formuliert, schon um den Druck herauszunehmen: Bei Fakten und Meinungen schlagen Irrtümer hier anders auf die Benotung durch als auf dem gewohnten Terrain der deutschen Nationalgeschichte, mal vorausgesetzt, ich bemerke solche Fehler. Als Dozent kann man nur dann mit Anstand Weltgeschichte betreiben, wenn man selbst immer wieder lernwillig ist.
Es gab schließlich noch eine arg verspätete Diskussion über das Video der Abschlussfeier der Olympischen Spiele von Sydney und die Frage, inwiefern es bewegend war. Aber vielleicht ist es doch zu persönlich, solche Bekenntnisse in diesem Blog öffentlich zu machen. Nur so viel: Ich war nicht der einzige, der sich dazu bekannte, den Auftritt von Midnight Oil ergreifend zu finden. Aber natürlich war mir klar – der Einwand kam sogleich –, dass die australischen Siedler am Tag nach der Feier weiter auf dem okkupierten Land lebten. Rituale sind mächtig, aber keine Katharsis. Aber kann es so etwas beim Siedlerkolonialismus überhaupt geben?
Das ist nicht die einzige offene Frage, die bleibt. Ich hatte vorab meine persönliche Bilanz der gewonnenen Einsichten formuliert und verteilt, und darunter sind nicht nur Beobachtungen zur Literatur, zur Macht des Erzählens und seinen Grenzen, zur Erinnerungspolitik und der Diskussionskultur der Veranstaltungen, sondern auch eine Menge Nachdenklichkeit. Diese Thesen seien hier als Abschluss dieses Blogs dokumentiert.
1. Siedlerkolonialismus war ein Projekt, für das es im Wertehorizont des 21. Jahrhunderts keine Rechtfertigung mehr geben kann. Gerade deshalb sind Akteure, Ursachen und Folgen klar zu benennen und systematisch zu kontextualisieren
2. Dieses Postulat ist insofern nicht trivial, als die geschichtswissenschaftliche Literatur, die im Mittelpunkt der Veranstaltung stand, in Konkurrenz zu politisch-moralisch fokussierten Interpretationen steht, die (siehe Patrick Wolfe) eine durchaus bemerkenswerte Resonanz entfalten. Es erscheint müßig, für einen Dialog zwischen diesen beiden Literaturen zu plädieren, zu offenkundig ist das instrumentelle Verhältnis der letztgenannten Autoren zur Geschichte. Etikettierungen, die eher der Anklage als dem kontextualisierenden Verstehen dienen, laufen letztlich auf eine Parodie kritischer Geschichtsschreibung hinaus, die in der seltsam eindimensionalen Präsentation des Indigenen nur ihren offenkundigsten Ausdruck finden.
3. Auch beim Siedlerkolonialismus gilt: Es gibt nur eine Geschichte. Eine Tribalisierung der historischen Darstellung, in der verschiedene Gruppen autonom ihre jeweils eigene Sicht auf die Vergangenheit entwickeln, scheint weder historiographisch noch politisch-moralisch legitimierbar. HistorikerInnen stehen insofern in der Verantwortung, siedlerkoloniale Geschichten als Gesamtheit zu thematisieren – weil alles andere bestenfalls Teilwahrheiten produziert und weil ohne eine solche Gesamtsicht der Weg in den Abgrund droht.
4. Nach dem Verlauf der Debatten zu urteilen sind die Mythen des Siedlerkolonialismus unter den heutigen Studierenden mausetot. Das erspart einige Diskussionen mit vorhersagbarem Verlauf und Ergebnis, bedeutet aber auch, dass es an einem Narrativ für die Menschen fehlt, die sich an der Frontier durchbissen. Vielleicht ist diese Sprachlosigkeit das letzte verbliebene Vermächtnis von Frederick Jackson Turner?
5. Siedlerkolonialismus war ein Projekt der europäischen Moderne, das nach dem Zweiten Weltkrieg einen unvermeidlichen Niedergang erlebte. Grund war der zeithistorische Kontext des Kalten Krieg, das Erstarken indigenen Widerstands und die sozioökomische Anziehungskraft urbaner Räume.
6. Es gibt in der Geschichte des Siedlerkolonialismus wiederkehrende Muster: Okkupationen von Land und Verrechtlichung des Landbesitzes, Gewalt gegen Indigene, die Überlegenheit westlicher Machtinstrumente und Technologien, mythologische und pseudowissenschaftliche Legitimierungen des Unlegitimierbaren. Diese Gemeinsamkeiten sind jedoch eher ein allgemeiner kontextueller Rahmen als ein Schlüssel zu einem welthistorischen Phänomen, das in seiner ganzen Vielfalt untersucht werden muss.
7. Wenn man diese Vielfalt und die globale Dimension des Siedlerkolonialismus anerkennt, bleibt es erklärungsbedürftig, warum Palästina in den jüngeren Debatten eine so prominente Rolle spielt. Liegt das vielleicht auch daran, dass der Widerstand gegen Siedlerkolonialismus für den Großteil der Geschichte frappierend schwach war, insbesondere in Anbetracht der Monstrosität des Geschehens? Handelt es sich womöglich um eine Kompensationsreaktion, indem man das apathisch-resignative Verhalten so vieler Indigener in der Geschichte durch umso eifrigen Aktivismus in der Gegenwart wiedergutmachen will?
8. Grundlegend für das Verständnis von Siedlergesellschaften sind die divergenten Interessen und Handlungslogiken von Siedlern und staatlichen Autoritären, die jedoch nur selten offen artikuliert oder gar verhandelt wurden, weil beide Akteure in geradezu schicksalhafter Weise aneinandergekettet waren. Keine Siedlung ohne die militärischen, politischen und ökonomischen Ressourcen des Staatsapparats – und kein Staat, der das Scheitern eines siedlerkolonialen Projekts schadlos übersteht.
9. Die Frage nach der Balance der Macht ist müßig, nicht jedoch die Frage, welche Gruppe gewöhnlich Veränderungen initiierte. Das waren häufig die Siedler, die staatlichen Autoritäten immer wieder in Situationen brachten, die dem von McNamee diagnostizierten „strategic fatalism“ zumindest nicht ganz unähnlich waren.
10. Aus indigener Sicht führt Siedlerkolonialismus regelmäßig zu einem Zustand rechtlicher und politischer Anomie, aus dem es keinen offenkundigen Ausweg gibt, ja noch nicht einmal eine offenkundig legitime Antwort. Diese Situation wirft für HistorikerInnen schwierige Fragen nach den Grenzen des Verständnisses für indigene Reaktionen auf. Gibt es ein Recht auf Verbitterung – oder gar ein Recht auf Gewalt als Mittel des Widerstands, wenn andere Auswege offenkundig unrealistisch sind?
11. Das Ökonomische war in der diskutierten und durchaus vielfältigen Literatur eine frappierende Leerstelle. So erfuhr man erstaunlich wenig darüber, wie gesellschaftliches Leben und Arbeiten in einer Siedlerkolonie aussah. Liegt das womöglich an der Aversion gegen das Narrativ, dass ökonomische Entwicklung ein moralisches Recht auf Besitznahme schuf?
12. Multiperspektivität erscheint auf den ersten Blick als offenkundiges Gebot einer postkolonialen Erinnerungskultur. Aber läuft das nicht praktisch auf eine bloße Addition von Einzelperspektiven hinaus, die unverbunden im kollektiven Gedächtnis vor sich hinvegetieren? Wie kakophon darf Erinnerung sein?
13. Falls das siedlerkoloniale Projekt nicht irgendwann kollabierte oder bis zur Marginalität schrumpfte, ist das Erbe der siedlerkolonialen Eroberung im Fundament der Folgegesellschaften quasi einbetoniert: kein Siedlertum ohne Landnahme. Eine umfassende Restitution liefe somit darauf hinaus, moderne Gesellschaften landlos zu machen und ihnen damit in einem sehr wörtlichen Sinne die Grundlage zu entziehen. Eine Ausweisung autonomer indigener Gebiete ist vor diesem Hintergrund gleichermaßen alternativlos und unbefriedigend.
14. Im 21. Jahrhundert gibt es in siedlerkolonialen Gesellschaften eine politisch-moralische Leerstelle, die rechtliche Protektion (für Land, Sprache, Kultur, etc.) und wohlfahrtsstaatliche Versorgung nur unzulänglich zu füllen vermögen. Es bleibt zu diskutieren, inwiefern Rituale diese Lücke schließen können – insbesondere dann, wenn wir uns eingestehen, dass Rituale womöglich alles sind, was wir anbieten können.
15. Last but not least – ein Kommentar zur Gesprächskultur im Hauptseminar. In unseren Debatten fehlte der übliche Streit über Terminologien und diskursive Regeln. Gibt es da eine gewisse Ermattung, weil dazu alles gesagt ist? Oder hatten wir ganz einfach Wichtigeres zu diskutieren?
Falls Sie diesen Blog lesen, ohne an dieser Veranstaltung teilgenommen zu haben: Ich bin gerne bereit, das Gespräch in angemessener Form weiterzuführen. Schicken Sie mir doch einfach eine Email.

21. Januar 2025
In der vorletzten Sitzung sollte das Hauptseminar einen Bezug zu Deutschland herstellen. Dafür gibt es einen vermeintlichen Königsweg, nämlich den Mord an Herero und Nama. Das ist inzwischen gut erforscht, wird aber auch gerne in arg simplizistischer Manier wiedergegeben. Es gibt eine Linie von den deutschen Kolonialverbrechen zu den nationalsozialistischen Genoziden, aber es ist ein ziemlich verwickelter und keineswegs monokausaler Weg. Das kann man nachlesen, aber nicht mehr wirklich ergebnisoffen im Seminar diskutieren. Und wer diesen Blog regelmäßig liest, der weiß: Die Fragen, auf die es schon eine parate Antwort gibt, stelle ich hier gar nicht erst zur Debatte.
Deshalb gab es heute ein anderes Thema: die innere Kolonisation im deutsch-dänischen Grenzraum. Lässt sich diese Art von Siedlung sinnvoll als Teil der globalen Geschichte diskutieren, oder ist das letztlich ein ganz anderes Thema? Die Diskussion ging von einem Referat von Jan Ocker aus, der an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eine Doktorarbeit zum erwähnten Thema schreibt. So ähnelte die heutige Sitzung eher einem klassischen Kolloquium: Der Referent präsentiert seine Forschung, entwickelt ein paar Thesen, und dann wird darüber diskutiert.
Der eklatanteste Unterschied war zugleich der offensichtlichste: Es gab keine Indigenen, die vertrieben, entrechtet oder ermordet werden mussten. Das kolonisierte Land wurde durch den Aufkauf aufgegebener Betriebe verfügbar, nur in seltenen Fällen kam es zu Enteignungen. Es gab den nationalen Gegensatz, die Vorstellung, mit Bauern auf eigener Scholle ein nationales Bollwerk zu errichten, aber es fehlte die inzwischen vertraute Asymmetrie. Auch die dänische Seite wollte die Grenze, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gleich dreimal verschoben wurde, mit landwirtschaftlichen Entwicklungsprojekten zementieren. Anders als im Osten, wo Siedlung im Zeichen des Kampfes gegen die „Polonisierung“ stand, gab es noch nicht einmal einen rassischen Gegensatz. Es ging aus deutscher Sicht nicht gegen die Slawen, sondern gegen eine nordische Rasse, und beide Seiten stellten nie in Frage, dass der jeweilige Gegner weiß war. Dafür unterstellte man sich wechselseitig agrarische Inkompetenz, die innere Kolonisation sollte auch Land vor dem Missmanagement der anderen retten. Da möchte man vor dem Hintergrund des virulenten Rassismus siedlerkolonialer Gesellschaften fast schon mit den Schultern zucken. Wenn das alles ist, was ihr den anderen vorwerfen konntet…
Auffallend war die Stärke des preußischen Staates, der stets sehr präsent war, sehr sorgfältig agierte und überhaupt sehr dominant auftrat. Sonst hatten wir es beim Siedlerkolonialismus vorzugsweise mit fragiler Staatsgewalt zu tun, es sei denn, die Gegensätze kochten zu kriegerischen Auseinandersetzungen hoch. Aber Soldaten traten hier nur im Deutsch-Dänischen Krieg und im Zweiten Weltkrieg in Erscheinung, beides Konflikte, die weit über die regionalen Spannungen hinauswiesen. Siedler wurden gründlich geprüft, bevor sie Land zugewiesen bekamen, und dazu gab es dann einen Pachtvertrag auf Jahrzehnte, dessen Abbezahlung keine Trivialität war. So sieht also Siedlung aus, wenn der Staat das ganze Projekt fest in der Hand hat.
Für die innere Kolonisation brauchte es Charakter und nationale Gesinnung. Beides wurde vorab sorgfältig geprüft, danach begann die mühsame Arbeit auf dem Acker. Viel stärker als in anderen Sitzungen stand die landwirtschaftliche Arbeit im Mittelpunkt – mit all ihren Härten und Risiken. Reich wurde dabei kaum jemand, am allerwenigsten der Staat. Die innere Kolonisation war augenscheinlich ein notorisches Zuschussgeschäft, das noch dazu in einem Teil Deutschlands durchgeführt wurde, wo der Preisdruck durch Agrarimporte besonders stark war. In Küstennähe entstanden schon vor 1914 Formen der Massentierhaltung, die ganz vom Getreideimport aus Übersee abhängig waren. Da wirkt die innere Kolonisation arg rückständig: eigenständige Bauern, die ihr eigenes Essen produzieren und dann noch was für den Markt, um die Pacht zu zahlen. Immerhin mussten sie landwirtschaftliche Erfahrung nachweisen, aber das war ein dehnbares Konzept in einer Zeit, in der nur ein kleiner Teil der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung eine Ausbildung absolvierte.
Am Ende gab es das, was es beim Siedlerkolonialismus selten gibt: ein Happy End. Seit 1955 haben sich Bundesrepublik und Dänemark auf friedliches Zusammenleben in der Grenzregion verständigt. Man lässt die Träume von Bauern als nationale Bollwerke ganz einfach hinter sich zurück. Schön, dass wir sowas auch mal haben! Und zugleich ist das ein Hinweis, dass jede Bilanz des Siedlerkolonialismus ein Gespür für Nuancen haben sollte. Mal schauen, ob wir das in der Abschlusssitzung hinbekommen.

14. Januar 2025
Heute war einer dieser eisigen Januartage, bei dem der Mann über 50 spürt: Ich bin echt alt geworden. Und dann ging es auch noch um den Historikerstreit der 1980er Jahre. Den Piper-Band von 1987 habe ich in der Oberstufe gelesen, noch vor dem Studium. Ich will nicht behaupten, dass ich alles verstand, aber der Band und die dort dokumentierte Kontroverse spielten zweifellos eine Rolle bei der Entscheidung, mich im Sommer 1990 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg für das Fach Geschichte einzuschreiben. Immerhin scheint die damalige Kontroverse noch nicht völlig aus dem Gedächtnis der heutigen Studierenden verschwunden zu sein. Die tastende Eingangsfrage nach dem Historikerstreit brachte immerhin zwei kompetente Antworten, aber auch einiges Kopfschütteln. Es ist ja auch wirklich lange her, schon die damalige Autorenriege wirkt heute befremdlich: alles deutsche Professoren, meist Historiker. Und das muss man auch nicht gendern, denn damals kam eine reine Männerriege zu Wort.
Das immerhin hat sich geändert bei dem Band "Historiker streiten", den Susan Neiman und Michael Wildt 2022 herausgaben und der im heutigen Referat präsentiert wurde. Es ist keine geringe Herausforderung, einen Aufsatzband in einem Vortrag zu präsentieren, und den Referenten wurde vorab ein Recht auf Selektivität eingeräumt (das sie auch nutzten). Der Vorteil dieses Bands war, dass auf diesem Weg viele Schlüsselthemen der neueren Debatte erwähnt wurden: Israel, die BDS-Resolution, Mbembe, Black Lives Matter, Dirk Moses und sein "Katechismus"-Vorwurf und die Erinnerung an die Debatten der 1980er Jahre. Es ging um viel in dem Band, aber erstaunlich wenig um die Erfahrungswelten junger Erwachsener im heutigen Deutschland: Die meisten AutorInnen waren älter als ich bis hin zu Yehuda Bauer, geboren 1926 in Prag (und im vergangenen Oktober verstorben). Damit war der Band eine gute Einstimmung für eine Diskussion über die Frage, welche Erinnerungspolitik heutige Studierende favorisieren. In Gruppen sollten Studierende über die folgende Frage diskutieren: "Welche Haltung sollte die deutsche Bevölkerung zu den Verbrechen des Siedlerkolonialismus einnehmen?"
Es war interessant, die Diskussion an den Tischen zu verfolgen. Es gehört zu den didaktischen Spielregeln, die Autonomie von Gruppendiskussionen zu respektieren, aber manchmal sind ja auch Mimik und Gestik aussagekräftig. Die heutige Diskussion war ein solcher Fall. Ich sah offene Gesichter, man nickte viel und schüttelte selten den Kopf, es wurde auch mal gelacht, aber das Lachen stand nicht in Konflikt mit der Ernsthaftigkeit des Themas. Es gab offenbar kein Zerwürfnis, keinen Streit, ja anscheinend noch nicht mal eine grundsätzliche Verschiedenheit von Meinungen, und das bestätigten die Studierenden auch auf Nachfrage. Nur zur Erinnerung: Das Buch der heutigen Sitzung hatte den Titel "Historiker streiten". Da fällt es schon auf, wenn junge Historiker nicht streiten. Die Referenten hatten für eine "differenzierte und offene Diskussion" plädiert, und so lief es dann auch.
Um da noch einmal autobiographisch zu werden: Ich habe mich als Student über diese Themen gestritten. Mit anderen Studierenden, mit Freunden und Bekannten, auch mal mit Wissenschaftlern. Meine Studienzeit fällt in die Jahre nach der Wiedervereinigung, als manche Konservative die Grenzen rechtsnationalen Denkens austesteten und die selbstkritische Erinnerungskultur noch ziemlich fragil wirkte. Da galt es, Farbe zu bekennen, und das habe ich getan. Offenbar gibt es nichts, was heutigen Studierenden ein vergleichbares Bekenntnis abverlangt, jedenfalls nicht jenen, die heute im Seminarraum saßen. Es muss ja auch nicht unbedingt ein intellektueller Gegner sein, man kann auch Stolz auf eine kritische Haltung zur eigenen Geschichte empfinden. Aber der schien auch nicht sehr ausgeprägt: Keine Gruppe sprach über eine Vorbildfunktion der bundesdeutschen Erinnerungskultur für andere Ländern. Vielleicht ist diese Vorbildfunktion auch nicht mehr ganz so strahlend, wenn man gerade hören musste, wie Alice Weidel über den "Kommunisten" Hitler sprach.
Fast alle Gruppen sprachen über Herero und Nama. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil die deutschen Kolonialverbrechen in der Veranstaltung nicht als Thema vorgekommen waren. Über Australien und Algerien, beides Veranstaltungsthemen, wurde weniger geredet. Mit anderen Worten: Die Diskussion über Verbrechen des Siedlerkolonialismus blieb stark auf den Rahmen der deutschen Nationalgeschichte fixiert, obwohl das in der Leitfrage keineswegs verbindlich vorgesehen war. Die dort erwähnte "deutsche Bevölkerung" besteht ja auch aus Menschen, die in anderen Ländern gelebt haben, die ihre eigenen siedlerkolonialen Projekte erlebten. Mal wieder kam ich mit meiner England-Erfahrung, der Gründervater meiner britischen Uni war zum Beispiel Plantagenbesitzer auf den Bahamas, aber solche Erfahrungen von Migranten werden wohl immer noch als persönliche Reminiszenzen gesehen und nicht als Bereicherung des bundesdeutschen kollektiven Gedächtnisses. Dabei hatte ich vorab darauf hingewiesen, dass ich bewusst nicht von deutschen Staatsbürgern geredet habe.
Keine der Gruppen diskutierte über Siedlermythen und die Notwendigkeit, solchen Legenden im Interesse einer kritischen, ehrlichen Vergangenheitspolitik entgegenzutreten. Ich habe es mir verkniffen, über Niall Fergusons imperiale Phantomschmerzen und deren Resonanzboden im heutigen Großbritannien zu reden. Man sollte als Historiker nicht zu oft den Zeitzeugen geben. Stattdessen sprach ich über die Cowboys: Da bekam man eine fette Dosis Siedlermythologie ab, einfach indem man vor Mitte der 1980er Jahre Zeit vor einem Fernsehbildschirm verbrachte, und diese Erfahrung fehlt heutigen Studierenden anscheinend völlig. Der Cowboy ist tot, die Legenden der Siedler sind unbekannt und sowieso irrelevant, was ich mit Blick auf die Konzeption der Veranstaltung durchaus erleichternd fand. Das Hauptseminar hatte auf einen kritischen Blick auf ältere Darstellungen verzichtet und ganz auf die neue und neueste Literatur gesetzt, weil mir eine ostentative Kritik weißer Siedlermythen irgendwie als obsoleter Exorzismus vorkam. Da lag ich mit meinem Gespür offenbar richtig.
Ein wesentlicher Teil der Gespräche drehte sich um die Vermittlung einschlägigen Wissens in der breiten Öffentlichkeit. Da liegen offenkundig große Aufgaben, zumal die deutsche Kolonialgeschichte nach den geschilderten Erfahrungen selbst in der Schule kaum vorkam. Die historische Aufklärung fand auch mehr Sympathie als gesetzliche Regelungen: Der BDS-Beschluss, den die deutschen Kulturinstitutionen im Ausland heftig diskutierten, war in den Gruppendiskussionen kein Streitgegenstand. Mir war das nicht unsympathisch. Ein Studierender fragte mich nach der Sitzung nach meiner persönlichen Einstellung zu solchen Gesetzen. Es sei hier offengelegt: Ich hege große Sympathie für Meinungsfreiheit in historiographischen Dingen, so wie sie etwas von der US-amerikanischen ACLU protegiert wird, wissend, dass das zur bundesdeutschen wehrhaften Demokratie nicht passt. Wenn sich Leute um Kopf und Kragen reden, weiß man immerhin, wo sie stehen. Besonders schmerzhaft wird die Kriminalisierung, wenn sich das mit dem urdeutschen Hang zur Gründlichkeit paart, wo jeder Anschein illegitimer Meinungen gnadenlos ausgeleuchtet wird. Hört doch erst mal zu und denkt darüber nach, was das für Menschen sind und wie sie zu ihren Meinungen kommen! Ablehnen könnt ihr das dann immer noch.
"Viele tun sich schwer, mit der neuen, unübersichtlicheren Realität zurechtzukommen", schrieb Sebastian Conrad in seinem Beitrag zu "Historiker streiten". Da wird die Empörung über Grenzüberschreitungen oft zur Ablenkung von der eigenen Unsicherheit im Umgang mit neuen Geschichten. Vielleicht ist das ja das eigentliche Erbe des Historikerstreits der 1980er Jahre: eine Gewöhnung an geschichtspolitische Monochromie. Damals gab es klare Gewinner und tabuisierte Meinungen, das scheint in der Gegenwart anders zu sein. Und vielleicht ist das ja auch interessanter als der damalige Gelehrtenstreit unter Männern.

7. Januar 2025
Nach der Weihnachtspause erweiterte sich mit der heutigen Sitzung das Diskursfeld. Es ging nicht mehr nur um die Realgeschichte, sondern auch um das kollektive Gedächtnis – also um Wege des gesellschaftlichen Umgangs mit der Vergangenheit. Da sind nicht nur Kenntnisse und Einsichten über historische Zusammenhänge gefordert, sondern auch das Nachdenken über die persönliche Meinung und das, was diese Meinung prägt. Bislang waren die Studierenden der Veranstaltung hier betont zurückhaltend, und auch deshalb wurden sie vorab per Email aufgefordert, sich über die eigene Haltung Rechenschaft zu geben. Das war ein pädagogischer Wunsch, der nicht unbedingt durchschlagenden Erfolg hatte, denn das Verständnis für fremde Haltungen wurde in der heutigen Sitzung nachdrücklicher formuliert als die eigene Position. Wenn man eine indigene Haltung für nachvollziehbar hält, bedeutet das ja noch lange nicht, dass man sie auch teilt. Aber vielleicht sind wir ja auch erst am Anfang des Gesprächs, und es ist ja auch für deutsche Studierende nicht so einfach wie das, was mir eine amerikanische Kollegin über vergleichbare Veranstaltungen in den USA berichtete. Da endet das Gespräch regelmäßig im Eingeständnis der eigenen Komplizenschaft, ja die Teilnahme wird geradezu als eine ritualisierte Anerkennung der persönlichen Schuldhaftigkeit als Bürger einer Siedlerkolonie zelebriert. So einfach kommt man in Deutschland nicht durch.
Im Mittelpunkt der Sitzung stand Frantz Fanon, dessen Bücher, allen voran "Die Verdammten dieser Erde", inzwischen geradezu zur postkolonialen Pflichtlektüre gehören. Die vorzügliche Biographie von Adam Shatz diente als Wegweiser zu einem wahrhaft ereignisreichen Leben, dazu gab es als vorbereitende Lektüre Auszüge aus "Die Verdammten dieser Erde", darunter Sartres berühmtes Vorwort. Ganz nebenbei ging es auch um Algerien, diesmal um das Ende der Siedlerkolonie, die zugleich Fanon zum politischen Akteur machte. Eigentlich ging er 1953 nach Algerien, um dort die Leitung einer psychiatrischen Klinik zu übernehmen, wie so viele Franzosen: Algerien war für sie selbstverständlicher Teil des französischen Mutterlands. Dann begann 1954 der Bürgerkrieg, der schließlich zur algerischen Unabhängigkeit führte und dem Massenexodus der Siedler.
Die gewählten Textauszüge drehten sich um Fälle, denen Fanon in seinem Alltag als Leiter einer psychiatrischen Klinik in Blida bei Algier begegnete. Da konnte man nachvollziehen, wie Fanon durch die Konfrontation mit den psychischen Verheerungen des Siedlerkolonialismus und des Bürgerkriegs herausgefordert wurde. Das Versprechen des republikanischen Universalismus, dem er unter anderem sein Studium in Frankreich verdankte und das in seinem Buch "Black Skin, White Masks" noch nachhallte, verlor da jeglichen Glanz, und stattdessen verschrieb sich Fanon einer revolutionären Vision. Gewaltsamer Kampf, angetrieben von ländlichen Massen, würde das Unrecht der Kolonialherrschaft beenden und den neuen Menschen schaffen. Sartre fand das faszinierend, sein vielzitiertes Vorwort berauscht sich geradezu an Fanons Provokation.
Aber Sartre ist halt auch schon eine Weile tot, und der Zauber des Existentialismus hat sich gründlich verzogen. Es schien den meisten Studierenden ziemlich egal zu sein, woran sich der französische Großintellektuelle da enthusiasmierte. Ein Student wies darauf hin, dass er später auch den europäischen Terrorismus irgendwie faszinierend fand, eindringlich dokumentiert in Sartres Gespräch mit Andreas Baader in Stammheim. In jedem Fall war Fanon für Studierende interessanter als Sartre: Da sprach jemand, der Siedlerkolonialismus am eigenen Leib erlebte, auch wenn Fanon immer ein wenig Fremder in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung blieb. Er sprach halt kein Arabisch, sah auch anders aus, seine Hautfarbe war deutlich dunkler (was ihm die Arbeit erleichterte, als er zum Emissär der Unabhängigkeitskämpfer für das subsaharische Afrika ernannt wurde).
Für Fanon konnte man "ein bisschen Empathie" empfinden. Mit westlichen Konzepten, etwa dem Gewaltmonopol des Hobbes'schen Leviathan, hat es niemand versucht, zu offenkundig war die Korrumpierung der Staatsgewalt durch die Protektion der Siedler. Es gab auch Verständnis für die gemeinschaftsstiftende Kraft der Gewalt, aber auch Warnungen vor dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt. Vielleicht hätte es etwas mehr Befremden gegeben, wenn wir Fanons Wut bei der Lektüre gespürt hätten? Die Beschreibung der psychiatrischen Fälle war aufschlussreich, aber halt auch klinisch-nüchtern. Ich kann mich gut erinnern, wie ich bei der ersten Lektüre der "Verdammten" geradezu erschrak über die zügellosen Emotionen, die tiefe, unüberwindbare Kränkungen durch den westlichen Rassismus erahnen ließen. Was wäre wohl passiert, wenn Fanon in eine politisch einflussreiche Position gelangt wäre und damit in der Lage gewesen wäre, seine Wut politisch virulent werden zu lassen? Tatsächlich entwickelte sich Fanon in seinen letzten Jahren zu einem Kritiker der neuen postkolonialen Herrscher und ihrer Strukturen, aber ob er als politischer Führer seine brodelnden Gefühle im Zaum gehalten hätte? Fanon starb 1961 an Leukämie, und so stand er bis zuletzt unter dem Eindruck der brutalen internen Disziplin der FLN. Shatz beschreibt, dass Fanon die Schattenseiten einer Befreiungsbewegung aus eigener Anschauung kannte, darüber aber nie öffentlich sprechen konnte. Sein früher Tod hat ihm wohl einige schwierige persönliche Entscheidungen erspart.
Heute ist nur zu offenkundig, dass im Befreiungskampf kein "neuer Mensch" geschmiedet wurde – jedenfalls kein Mensch, wie ihn sich Fanon erhoffte. Das ist auch keine Einsicht der jüngsten Zeit, schon 1980, als Sartre starb, war es schwierig geworden, die romantische Verbrämung gewaltsamer Befreiungsbewegungen nachzuvollziehen. Man wusste einfach zu viel über Risiken und Nebenwirkungen. Shatz betont, dass Fanon in der westlichen Wahrnehmung viel gewaltaffiner wurde, als er in seinen Schriften und erst recht seinem persönlichen Verhalten war, und für Rachefantasien war er ohnehin nicht zu haben. Aber Shatz ist auch ein Autor, der den Schriften Fanons eine anhaltende Kraft attestiert. Nur bleibt die Frage, ob es noch die Kraft der frühen Nachkriegsjahrzehnte ist, in der man noch von Revolutionen träumte. Fanon hegte die Wut eines Menschen, der die Zukunft bauen wollte. Heute dokumentiert Wut meist eher Verzweiflung.
Am Ende einer überraschend verständnisinnigen Sitzung blieb mir die Warnung vor der Wut. Emotionen gibt es halt in der Politik, sie sind weder einem Exorzismus noch der Tabuisierung zugänglich, und die strukturelle Gewalt der Siedlerkolonialismus ist eine Erfahrung von einer Wucht, die heftige Gefühle förmlich provoziert. Aber Wut ist eine eigene Kategorie: Wut macht blind, sie nährt sich selbst, und sie kennt keine immanenten Grenzen. Über Wut sollte man erschrecken – bei anderen und bei sich selbst, völlig unabhängig vom Kontext. Das löst keine Konflikte, aber es sorgt immerhin dafür, dass die Dinge nicht völlig aus dem Ruder laufen. Und das ist im Umgang mit dem Erbe des Siedlerkolonialismus ja schon etwas.

17. Dezember 2024
Man könnte die bisherigen Sitzungen auch als eine lange Suchbewegung beschreiben. Wie setzt man am besten an, wenn man eine Geschichte des Siedlerkolonialismus schreiben will? Soll man von einem mehr oder weniger einheitlichen Gesamtprojekt reden oder von individuellen Projekten in Ländern und Regionen? Oder gibt es einen Weg zwischen diesen beiden Alternativen, etwa durch Typologien? Soll man Krieg und Gewalt in den Mittelpunkt rücken oder doch eher Wirtschaft und Gesellschaft (plus ein paar Tiere)? Soll man wie Khalidi mit unverhüllter Sympathie für die Verlierer schreiben und einer dosierten Maß der Empörung, oder sollte man besser auf einer neutralen Beobachterposition insistieren, so wie wir sie ja eigentlich in unserem historiographischen Normalmodus anpeilen? Und wie sieht es eigentlich mit der Chronologie aus? Soll man einer vergangenen kolonialen Welt, in der die Bürde des weißen Mannes noch als legitime Entschuldigung von Gewaltexzessen und rassischen Hierarchien gelten konnte, eine postkoloniale Welt mit neuen Sensibilitäten entgegenstellen? Das gibt es natürlich auch in der abgekühlten Variante bei McNamee, wo der Wunsch auf Siedlung erlahmt, wenn Menschen weniger Lust auf hartes Landleben verspüren und lieber in die Großstädte streben. Allerdings haben beide Lesarten doch einen starken Hauch von Hegel’schem Weltgeist.
Ob Patrick Wolfe irgendwann auch solche grüblerischen Momente hatte? Falls das so war, dann fielen diese Momente gewiss in die Zeit, bevor er 2006 seinen Aufsatz "Settler Colonialism and the Elimination of the Native" veröffentlichte, der laut Google Scholar aktuell auf 8461 Zitationen kommt. In diesem Aufsatz deutet jedenfalls nichts auf verbliebene Selbstzweifel hin. Mit der Selbstsicherheit eines Staatsanwalts ordnet Wolfe die Welt des Siedlerkolonialismus, und das Ergebnis lässt sich auch als Anklageschrift lesen. Wolfe wägt Begriffe und Konzepte gegeneinander ab, aber das macht ein Staatsanwalt ja auch. Nur wenn die Argumente plausibel sind und die Worte gut gewählt werden, ist die Verurteilung garantiert. Wolfes Urteil traf offenbar einen Nerv. Die "logic of elimination" ist eine ikonische Formulierung, gleiches gilt für "invasion is a structure not an event", und beides wird im Text nicht wirklich hergeleitet, sondern eher gesetzt. Es ist ein apodiktischer Stil, den sich Studierende für ihre Abschlussarbeiten besser verkneifen sollten. Aber es hat zugleich die mythische Kraft des Helden, der einen gordischen Knoten durchschlägt. Die Welt ist klar und geordnet oder wirkt jedenfalls so.
Wolfe ist kein Historiker, und das merkt man in einem frappierend ahistorischen Verständnis von Siedlerkolonialismus. Er sucht sich Belegstücke aus der Geschichte ohne große Sorgen über deren chronologischen Ort und Kontext. Individuen bleiben blass, desgleichen kollektive Akteure, der Blick kommt von oben, als gäbe es ein zeitloses Skript, dem Siedler einmütig folgen. Bei einem solchen weiten Ausgriff wirkt es merkwürdig, wie eng die geographische Perspektive ist. Seine Beispiele kommen im Westlichen aus Australien, den Vereinigten Staaten und Israel. Aber was ist Wolfe, wenn nicht ein Historiker? Ausnahmsweise stand in dieser Veranstaltung nicht nur das Werk eines Forschers im Mittelpunkt, sondern auch der Mensch, der freilich ein wenig mysteriös blieb. Wolfe hatte irisch-katholische und deutsch-jüdische Wurzeln, aber inwiefern dies seinen Blick prägte, blieb offen.
Es wirkt jedenfalls wie ein etwas anderer Forschertyp als Rashid Khalidi, dessen Ansatz eingangs zur Diskussion stand. Beide schreiben nicht "sine ira et studio", aber doch auf unterschiedliche Weise. Bei Khalidi wird die eigene Rolle und die der eigenen Großfamilie offengelegt, es ist das Buch eines Kämpfers in einem generationenübergreifenden Konflikt und zugleich ein Forscher, der auch eine Art Lebensbilanz zieht. Das bedingt eine Einseitigkeit des Blicks und auch eine gewisse Unempfindlichkeit gegenüber den Gegnern, deren Sicht bei Khalidi gar nicht erst erläutert wird. Feinde muss man nicht verstehen. Man muss sie bekämpfen.
Wolfe war Vertrauensperson für Aborigines in Australien und lebte in der Nähe der Wurundjeris, und Australien bildete in seiner wissenschaftlichen Arbeit einen gewissen Schwerpunkt. Er war ein aktivistischer Hochschullehrer, der deutlich machte, dass er symbolische Gesten – in Australien, wie gesehen, ein wichtiges Thema – für völlig inadäquat hielt. Wolfe war ein Kritiker Israels, der dort wieder einmal die eliminatorische Intention des Siedlerkolonialismus am Werk sah und betonte, dass sich die Eroberungsabsichten auch auf die Symbolik und die historische Narration bezogen. Aber letztlich war er weniger politischer Akteur als Khalidi. Wolfe wollte vor allem eine Klärung von Bezügen, Narrativen, Begriffen, letztlich akademische Ambitionen, die hier jedoch offenkundig im Dienste einer guten Sache standen. Mit diesem Ansatz machte Wolfe eine beeindruckende Karriere, auch wenn er nie eine feste Stelle hatte. Oder vielleicht war ihm das gar nicht so unlieb, da er so mit Fellowships und allerlei Einladungen durch die Welt der Wissenschaft tingeln konnte oder jedenfalls jenen Teil der Wissenschaftswelt, der stramm links war und fest an der Seite der Palästinenser stand. Wolfe war auch ein Rockstar der Forschung, wie die Nachrufe nach seinem Tod 2016 erkennen ließen.
Die Referenten sahen ein Recht des Wissenschaftlers, Position zu beziehen. Tatsächlich ist es nicht nur legitim, sondern auch wissenschaftsstrategisch hilfreich, wenn Wolfe moniert, dass Siedler in historischen Darstellungen zu viel Beachtung finden. Es geht auch in Ordnung, Vergangenheit und Gegenwart eng zu verbinden: Die Erinnerung an das erlittene Unrecht ist offenkundig noch viel zu lebendig, als dass man über mögliche Wege der Historisierung schon nachdenken könnte. Einen kritischen Blick lohnt eher das arg binäre Verständnis von Tätern und Opfern, das nicht nur keine Grautöne zulässt, sondern auch den Akteuren jegliche Eigenständigkeit nimmt. Was ist, wenn Indigene in die Welt der Moderne aufbrechen wollen und ihr Glück in einer multikulturellen Stadt suchen, mit westlichen Normen und Werten und Lebenswegen? Kein vernünftiger Mensch sollte einem indigenen Menschen diese Freiheit nehmen wollen, aber dieser Fall ist bei Wolfe einfach nicht vorgesehen.
Bei Wolfe regieren die Ideologeme. Es handeln nicht Menschen, sondern kulturelle Vorstellungen, deren krimineller Gehalt bei den Siedlern außer Frage steht. Offen ist für Wolfe eigentlich nur noch, ob die Elimination zum Genozid führt. Das ist einer der wenigen Punkte, in dem für mich nach den vergangenen zwei Monaten ein wenig Klarheit herrscht. Ich möchte keine Geschichte des Siedlerkolonialismus, in der die Indigenen als Menschen und Gesellschaften völlig blass bleiben: wo man nicht erfährt, was sie eigentlich den ganzen Tag über machen, wie sie wirtschaften, sich sozial und politisch organisieren und so weiter. Eine Geschichtsschreibung, in der Indigene nur Opfer sind und nichts anderes, ist bestenfalls arg verkürzt. Im schlimmsten Fall ist es eine Solidarisierung mit Menschen, von denen man am liebsten nicht allzu viel wissen will.

10. Dezember 2024
Es gibt eine Menge, was einem zur Geschichte Israels einfällt. Wasserbüffel werden dabei meist eher selten genannt, und gleiches gilt für Bienen, Ziegen, Schafe und Kühe. Diese Tiere sind die animalischen Helden in Tamar Novicks Buch "Milk and Honey", das die biblische Prophezeiung des Lands von Milch und Honig wörtlich nimmt und schaut, wie es denn bei den Tieren und ihren Produkten im Gelobten Land aussah. Bislang standen stets Menschen mit ihren Wünschen, Hoffnungen und Ängsten im Mittelpunkt der Veranstaltung, aber in Siedlergesellschaften laufen auch eine Menge Tiere mit durchaus beträchtlichem Eigensinn durch die Landschaft. Das kann durchaus Probleme schaffen, etwa wenn Ziegen die Setzlinge für Aufforstungsprojekte wegfuttern. Ziegen waren deshalb keine Lieblingstiere der Zionisten, auch für die Wasserbüffel war im Palästina des 20. Jahrhunderts immer weniger Platz – wobei die Zionisten einen Unterschied zwischen schwarzen und weißen Ziegen machten. Ja, wirklich.
Novicks preisgekröntes Buch erweitert nicht nur das Spektrum der Akteure. Wenn man nützliche und weniger nützliche Tiere als Teil des zionistischen Siedlungsprojekts in den Blick nimmt, wirkt Israel gar nicht mehr so außergewöhnlich. "Milk and Honey" behandelt viele Themen, die wir bereits für andere Länder als relevant erkannt haben: die große Bedeutung wissenschaftlicher und technischer Optimierungshoffnungen, die klandestine Aneignung lokalen Wissens, der instrumentelle Blick auf Landschaften und ihre Bewohner, die Angst vor Desertifikation, der Übergang von extensiver zu intensiver Landnutzung, die Sorge um Fruchtbarkeit in Regionen im Umbruch – wenn man ökologisch, ökonomisch, wissenschaftlich oder technisch ansetzt, wirkt Israel plötzlich wie eine ganz gewöhnliche Siedlerkolonie. Nur waren die Ankömmlinge hier zufälligerweise mal jüdisch.
Es lohnt sich, beim Thema Israel/Palästina einmal anders anzufangen. Das Kopfkino übernimmt sonst rasch die Regie, und dann geht es nur noch um Politik, Religion und schrecklich viel Blut. Immerhin gab es in den Tagen vor der Sitzung mal Nachrichten aus dem Nahen Osten, die Grund zum Jubeln gaben, denn in Syrien wurde ein Diktator gestürzt. Sowas kommt ja leider nicht mehr oft vor. Über Syrien nach Assad haben wir heute nicht gesprochen, zumal wir dabei wohl kaum über die Mutmaßungen und Hoffnungen hinausgekommen wären, die gerade in großer Zahl auf dem Meinungsmarkt zirkulieren. Es ist nicht das geringste Problem des Nahen Ostens, dass wir schon so oft gehofft haben und enttäuscht wurden, dass wir uns kaum noch trauen, optimistisch zu sein. Vielleicht entsteht ja doch ein stabiles, friedfertiges, tolerantes Land, vielleicht sogar mit Menschenrechten und Demokratie.
Es war unvermeidlich, in der Sitzung nicht bei den Tieren zu bleiben, sondern auch über den Konflikt zwischen Palästinensern und jüdischen Israelis zu sprechen, der im späten 19. Jahrhundert begann und bis heute viele traurige Nachrichten produziert. Es ist nicht nur die Länge des Konflikts, die Palästina/Israel zu einer besonderen Fallstudie macht. Weil die Zeit knapp wurde, sammelte ich Stichworte zur Besonderheit während des Referats, und die Tafel füllte sich rasch: die Siedler als Flüchtlinge vor einem bedrohlichen Antisemitismus, die Welt der Bibel als religionsübergreifender Assoziationsraum, Israel als legitimer Besitz der Juden in alttestamentarischer Zeit, der nun im 20. Jahrhundert zurückgefordert wurde (eine Kornkammer des römischen Reichs hatten wir schon, aber das ist doch kein Vergleich zum Jerusalemer Tempelberg), ständige Konflikte in Form militärischer Konflikte mit Armeen auf beiden Seiten, die zentrale Rolle benachbarter arabischer Länder, die aber kaum je gemeinschaftlich agierten und erst recht nicht als Befreiungskämpfer für Palästinenser in Erscheinung traten, die umstrittene Rolle der Mandatsmacht Großbritannien bis 1948, gefolgt von der großen Bedeutung der Supermächte USA und Sowjetunion, die Sensibilität der medialen Weltgemeinschaft – all das ist in der Welt des Siedlerkolonialismus ungewöhnlich und einzigartig in dieser Kombination, und noch dazu kommt all dies in einem engen geographischen Raum zusammen. Israel ist ohne die besetzten Gebiete etwa halb so groß wie die Schweiz.
Es ist eine Menge passiert, seit Theodor Herzl sein Buch "Der Judenstaat" schrieb, und mit der Vielzahl der Ereignisse kämpften die Referenten im zweiten Teil der Sitzung. Willkommen zur Geschichte des Nahen Ostens: Es passiert oft mehr, als man auf die Schnelle verarbeiten kann, und eine Geschichte Israels oder Palästinas, die eine vollständige Behandlung aller wichtigen Ereignisse verspricht, diskreditiert sich mit einem solchen Anspruch nur selbst. Aber soll man deshalb von einem "hundertjährigen Krieg" sprechen, wie es Rashid Khalidi im Titel des Buches macht, das als zweites vorgestellt wurde? Genauer: Soll man die Geschichte einer Weltregion auf Kriege und Kriegserklärungen reduzieren? Wieder einmal erfuhr man bei Khalidi kaum etwas über den Alltag der Menschen, über Gesellschaft und Wirtschaft, als hätten die Palästinenser tagaus tagein nur an ihre Befreiung gedacht und die jüdischen Siedler an Okkupation.
Rashid Khalidis "The Hundred Years' War on Palestine" präsentiert eine palästinensische Sicht des Konflikts, und zwar mit wissenschaftlichem Anspruch, aber ohne jeden Schein von Unparteilichkeit. Wie sehr das auf dem heutigen Buchmarkt zieht, merkte ich im Oktober während eines Buchs in London, wo ich in der Waterstones-Buchhandlung in der Gower Street (kein Geheimtipp, aber eine gute Adresse für wissenschaftliche Literatur) einen eigenen Büchertisch für Khalidis Band vorfand. Zu den Lesern gehört anscheinend auch US-Präsident Joe Biden, jedenfalls ausweislich eines Skandalfotos im konservativen Revolverblatt "New York Post", das wir in der PowerPoint sehen konnten. Khalidi ist Wissenschaftler an der Columbia University, schreibt aber zugleich als lebenslanger Kämpfer für die Rechte der Palästinenser und als Mitglied einer reichen und gebildeten Familie aus Jerusalem. Das verleiht der Darstellung eine Doppelbödigkeit. Wenn er die Zwietracht der Araber im israelischen Unabhängigkeitskrieg beschreibt, dann wirkt das wie ein Appell zur Einigkeit an heutige muslimische Entscheidungsträger.
Aber vielleicht sollte man das Buch gerade deshalb lesen: als Fenster in die Gefühlswelt von Menschen, die seit mehr als einem Jahrhundert auf der Verliererseite stehen? Als Geschichte von Menschen, die sich als Besiegte und Betrogene fühlen? Was ist der richtige Tonfall einer Geschichte des Siedlerkolonialismus, die nicht von den Gewinnern geschrieben wird? Es fehlte die Zeit, heute darüber nachzudenken, aber hoffentlich können wir das in der nächsten Sitzung nachholen. Dann soll es nämlich auch um eine erste Zwischenbilanz gehen.

3. Dezember 2024
Man ist versucht, die Geschichte des heutigen Zimbabwe vom Ende her zu erzählen. War das nicht von Anfang an eine unmögliche Siedlerkolonie, ein Projekt, das über kurz oder lang einfach scheitern musste? Die weißen Siedler waren auch in den Hochzeiten des britischen Kolonialismus eine schmale Minderheit, die kaum über fünf Prozent der Gesamtbevölkerung hinauskam. Es gab keine vertretbare Begründung, warum diese Gruppe die Hälfte des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens bewirtschaften sollte: Selten war eine Landreform so gut legitimierbar wie in Zimbabwe. Es gab auch – anders als in Algerien – keinen europäischen Staat im Hintergrund, der viel symbolisches und reales Kapital in die Unterstützung des Siedlerprojekts investierte und die Herrschaft der weißen Minderheit mit massivem Militäreinsatz absicherte. Nein, das konnte eigentlich nicht gut gehen.
Die Folgen zeigen sich in den beiden Büchern, die in der heutigen Sitzung diskutiert wurden: Heike Schmidts "Colonialism and Violence in Zimbabwe" und Jocelyn Alexanders "The Unsettled Land". Beide Autoren präsentieren unruhige Geschichten, ständige Konflikte um Land und zwischen bewaffneten Gruppen, und Phasen der mittelfristigen Stabilität sucht man vergeblich: Mehr als einen vorübergehenden Rückgang in der Intensität der Konflikte gab es offenkundig nicht. Beide Bücher verzichten auf eine teleologische Perspektivierung und schilderten Auseinandersetzungen in ihrer jeweiligen Zeit, eine durchaus gewöhnliche historiographische Übung, die wir unseren Studierenden eigentlich als gute wissenschaftliche Praxis vermitteln. Hier fühlte sich dieser Weg jedoch etwas merkwürdig an. Wieviel Offenheit verträgt eine Darstellung, die ein schreiendes Unrecht behandelt, das einfach keinen Platz in einer postkolonialen Welt finden konnte?
Mit Alexander rückte erneut die Frage des Landbesitzes und des Blicks auf das fruchtbare Land in den Blick, die wir zuvor für Australien diskutiert hatten. Neu wirkte insbesondere die Rolle der Chiefs, mit denen die weißen Siedler im damaligen Rhodesien ihr Regime zu stabilisieren suchten. Chiefs genossen Privilegien, aber ihre Zwischenstellung in einem schier unlösbaren Konflikt war zugleich ausgesprochen unbequem, und da fanden Chiefs unterschiedliche Wege. So kam es schon mal vor, dass ein Chief alkoholisiert vor Gericht erschien und das auch überhaupt nicht entschuldigungsbedürftig fand. Oder soll man statt "Chiefs" lieber von "Häuptlingen" reden? Mein Mitarbeiter David Drengk, der als Afrikanist über Malawi forscht, wies darauf hin, wie sehr manche Begriffe in manchen Zirkeln tabuisiert sind, was ich vielleicht ein wenig brüsk unter Verweis auf die Unterschiede Berliner und Bochumer Studierendenschaften konterte. Bislang sind wir ohne mühselige terminologische Diskussionen durch die Veranstaltung gekommen, und es wäre mir nicht unlieb, wenn das so bleiben könnte. Ein moralisch tadelloses Vokabular kann es ja auch kaum geben bei einem Geschehen, das heute niemand mehr für legitimierbar hält.
Die schwierigsten Diskussionen löste jedoch Schmidts "Colonialism and Violence in Zimbabwe" aus. Man kann nicht Siedlerkolonialismus diskutieren, ohne über Gewalt zu reden, und davon gab es schrecklich viel in der Grenzregion zu Mosambik, die Schmidt für ihre Fallstudie auswählte. Das wäre schon verstörend genug, aber Schmidt kritisierte zugleich die westliche Wahrnehmung von Gewalt und betonte den Wert indigener Rituale des Heilens, ja sie sah darin sogar ein Vorbild jenseits des afrikanischen Kontextes. Aber läuft es nicht auf eine Verharmlosung hinaus, wenn man afrikanische Wege feiert, mit dem Unaussprechlichen umzugehen?
Mit dem Ideal des staatlichen Gewaltmonopols, das wir von der westlichen Moderne kennen, kam man in Zimbabwe nicht weit. Es gab keinen Akteur, der einen solchen Anspruch glaubwürdig erheben konnte. Aber wie redet man über Gewalt als Dauerzustand, ohne über einen allgemeinverbindlichen Bewertungskontext zu verfügen? Es entstand eine vorsichtige, tastende Diskussion, und das konnte wohl kaum sein bei einem schwierigen Thema, bei dem plötzlich das vertraute moralisch-politische Fundament fehlte. Letztlich brachte das Gespräch weniger Antworten hervor als das gemeinsame Gefühl einer tiefen Ratlosigkeit, und das war hier ausnahmsweise mal Teil der Lernerfahrung. Gewalt ist entsetzlich, erst recht dann, wenn man keine Worte mehr hat, um die Gewalterfahrung zumindest semantisch in den Griff zu bekommen.

26. November 2024
Die heutige Sitzung diskutiert mit Algerien ein Land, das zum französischen Kolonialreich gehörte, ja geradezu Herzstück des französischen imperialen Projekts war. Der Grund für diese Auswahl war einerseits Kontext für die Diskussion über Franz Fanon im Januar, zum anderen ein Kontrast zum angelsächsischen Schwerpunkt des sonstigen Hauptseminars. Soll man die Siedlerkolonie Algerien als spezifisch französisches Projekt sehen, oder überwiegen die Ähnlichkeiten mit den USA und Australien? Es ist eine zentrale Frage der Veranstaltungen: Soll man von einem globalen Projekt des Siedlerkolonialismus reden oder vielmehr von vielen verschiedenen Projekten mit mancherlei Ähnlichkeiten, aber jeweils eigenem Verlauf? Und soll man diese Entscheidung eher empirisch-analytisch oder moralisch-politisch begründen?
In der heutigen Sitzung wurden zwei Bücher präsentiert: "By Sword and Plow" von Jennifer Sessions und "Resurrecting the Granary of Rome" von Diana Davis. Anders als in vorigen Sitzungen ging es jedoch weniger um die Bewertung der Bücher als um das, was sich aus diesen Büchern für ein Gesamtbild herausziehen ließ. In beiden Büchern wurden Besonderheiten erkennbar. Sessions betont in ihrer Kulturgeschichte des französischen Imperialismus die große Bedeutung der französischen Regierungen und der politischen Kultur, was dazu führte, dass Algerien auf eine ungewöhnlich enge Weise an Frankreich gebunden wurde: Seit 1848 gab es drei französische Departements in Algerien, die den übrigen in Frankreich gleichgestellt waren – mit dem Unterschied, dass nur die Stimmen der Siedler zählten. Davis betont die Imagination eines einst fruchtbaren Landes und das Narrativ einer Degradation des Lands durch arabischen Nomadismus. Aber waren das vielleicht nur Variationen eines globalen Musters? Die Marginalisierung der Indigenen und ihres Wissens, die zivilisatorische Mission des weißen Manners, das Übergewicht des Männlichen, die zentrale Rolle des Zugriffs auf Land und der Unterschied zwischen dem westlichen Eigentumsrecht mit den komplexeren, eher Nutzung als Besitz betonenden Rechtskategorien der Einheimischen, die Ausrichtung auf Agrarproduktion für kapitalistische Märkte, die militärische Gewalt im Zuge der Eroberung – all das lädt zu Vergleichen mit USA und Australien ein.
Bewusst wurde dabei das 19. Jahrhundert in den Blick genommen. Es lässt sich schwer bezweifeln, dass die Dekolonisierung Algeriens in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein außergewöhnlich dramatisches und blutiges Ereignis war: ein schrecklicher Bürgerkrieg über acht Jahre, der Regierungskrisen im Mutterland auslöste bis hin zum Kollaps der vierten Französischen Republik – da sucht man vergeblich nach Parallelen in Australien und USA. Vergleichbar wäre Algerien allenfalls mit dem Ende des portugiesischen Kolonialreichs: auch das ein langer Prozess mit exzessiver militärischer Gewalt, der am Ende zum Kollaps des Faschismus in Portugal führt. Aber im 19. Jahrhundert war Algerien nur eine von etlichen Weltregionen, in denen weiße Siedler die Bewirtschaftung von Land übernahmen, mit den erwähnten allgemeinen Merkmalen. Gewiss, es gab Unterschiede im Gewaltniveau, aber soll man das betonen und nicht viel eher die allgemeine Erfahrung von Gewalt und die Entwertung nichtwestlicher Lebensentwürfe – wie immer sie im Einzelfall aussahen? Wenn man sich in die Situation eines Indigenen hineinversetzt, der sich mit Siedlerkolonialismus konfrontiert sieht, kann man sich gut vorstellen, dass das Interesse an Nuancen begrenzt ist. Wenn das eigene Lebensmodell von Männern mit Waffen als wertlos behandelt wird, dann ist die Farbe der Uniform nicht mehr so wichtig.
Darüber diskutierten die TeilnehmerInnen zunächst in Gruppen, dann wurden die Befunde auf der Tafel zusammengetragen. Und dieses Tafelbild bekam dann sehr schnell eine ziemlich dramatische Schlagseite, und zwar bei den Besonderheiten. Die französische Wissenschaft, bekanntlich schon im Absolutismus ziemlich gut aufgestellt, spielte schon sehr früh eine wichtige Rolle, und sie sah ganz anders aus als das, was Joseph Banks in Botany Bay so trieb. Die französische Innenpolitik, das Spiel der Mächtigen wirkte ungewöhnlich direkt auf das Kolonisierungsprojekt. Fast möchte man bei der Lektüre von Sessions von einem Projekt der imperialen Selbstvergewisserung sprechen, das Algerien vor allem deshalb traf, weil es halt vor der Haustür lag. Der französische Staat agierte als eine Entwicklungsagentur, die viel weniger Raum für autonomes Handeln in der Siedlerkolonie ließ als das ferne Australien. Es gab in Algerien staatsförmige Strukturen, gewiss fragil, aber doch machtvoller als die lockeren Gemeinschaften der Aborigines. Nur so konnte es zu den Verhandlungen kommen, bei denen der algerische Dey als lokaler Machthaber den französischen Konsul mit dem Fliegenwedel traktierte – ein wichtiger Anlass für die französische Okkupation (und ein schöner Beleg, dass manchmal farbige Anekdoten tatsächlich stimmen). Es ging gegen Nomaden mit eigenen Strukturen und gegen Menschen muslimischen Glaubens. Das imaginiert "jungfräuliche" Land gab es in Algerien nicht, sondern einen Boden, der vom Missmanagement der Indigenen befreit werden musste. In den französischen Köpfen steckte die Vorstellung, man müsse die nordafrikanische Kornkammer der Antike wiederherstellen – eine solche Restaurationsfantasie konnte es logischerweise weder in Australien noch in Nordamerika geben, denn beide Teile der Welt waren dem römischen Imperium vollkommen unbekannt. Kurz: alles sehr französisch hier.
Jede Nation hält sich für besonders, und die Grande Nation hält sich selbstverständlich in ganz besonderer Weise für besonders. Es gibt sehr viel, was Algerien zu einem ungewöhnlichen Fall macht, und zwar sowohl gegenüber anderen europäischen Kolonialmächten als auch innerhalb des französischen Kolonialreichs. Da hatte Algerien eine Sonderstellung, vergleichbar Indien im britischen Empire: Nach Algerien kam im französischen Kolonialismus erst mal eine ganze Weile nichts. Und doch wurde mir ein wenig mulmig, als sich die Tafel so einseitig füllte. Ist unser Blick hier nicht arg eurozentrisch, indem wir von den Besonderheiten Frankreichs so offenkundig fasziniert waren? Oder war das einfach die Vorliebe des Historikers für präzise, nuancierte Interpretationen und die Abneigung gegen abstrakte Denkschablonen? Aber an den Allgemeinheiten hängt auch ein moralisches Urteil und eine Erfahrung indigener Machtlosigkeit, die vielleicht in einer Geschichte des Siedlerkolonialismus einen besonderen Status verdient.
Ein Unterschied bleibt zu erwähnen: Die europäischen Siedler waren stets eine Minderheit im Land, beschützt von französischen Soldaten, bis 1962 die französischen Besatzer kapitulierten und die Siedler in Scharen übers Mittelmeer flohen. Die Algerier waren stets weit in der Überzahl und wären es auch dann geblieben, wenn die ambitionierten Zielvorgaben für Ansiedlungen erreicht worden wären. Darin war Algerien jedoch keineswegs exzeptionell, ähnliches gilt zum Beispiel auch für das heutige Zimbabwe. Darüber reden wir dann nächste Woche.

19. November 2024
In zwei Sitzungen durch die Geschichte Australiens, und dann ist auch noch die einzige Person, die tatsächlich mal im Land war, in dieser Sitzung krank. Ja, es ist ein Parforceritt, den diese Veranstaltung unternimmt, und das bei einem Thema, bei dem eigentlich Behutsamkeit, Sensibilität, Umsicht besonders wichtig wären. Universitäre Veranstaltungen sind immer nur Impulse, Einstiege, Aufforderungen zum Weiterdenken, aber selten wird mir das so schmerzhaft klar wie in diesem Hauptseminar. Es wird ja auch nicht besser mit der Hektik, nächste Woche geht es um Algerien in 90 Minuten. Aber es wäre ja auch nichts gewonnen, wenn man sich auf einzelne Aspekte zurückzöge, und viel verloren. Immer wieder merke ich in dieser Veranstaltung: Es gibt tatsächlich einen inneren Zusammenhang des siedlerkolonialen Projekts.
Anstelle einer Synthese (jenseits der dürren Chronologie auf der Grundlage des Ploetz) diskutierte die Veranstaltung australische Geschichte auf der Grundlage dreier Bücher, die drei verschiedene Dimensionen diskutierten. Goodalls „Invasion to Embassy“ diskutiert die Konflikte um Land (und den Konflikt um das, was Land bedeutet) im historischen Überblick von der Invasion bis in die 1970er Jahre. Der Aufsatzband „Creating White Australia“ von Carey und McLinsky versammelt Perspektiven auf „whiteness“, nicht nur im Banne des sozialdarwinistisch grundierten Rassismus, sondern auch als Teil der Alltagserfahrung etwa von Missionaren, die in der indigenen Australiens eine wichtige Rolle spielten. Marilyn Lake zeigt in „Progressive New World“, wie die Reformpolitik um 1900 in den USA auch von australischen Vorbildern (inhaltlich wie menschlich) inspiriert wurde. Das Referat schlug bei diesem Text eine betont kritische Note an, was vielleicht eine gewisse Berechtigung hatte. Lake präsentiert manche Protagonisten und ihre Reisen doch sehr detailverliebt. Wie bei vielen Arbeiten der Verflechtungsgeschichte bleibt die Frage offen, wie wichtig die Kontakte letztlich waren. Die ausgiebig zitierten Höflichkeitsfloskeln sind da vielleicht nicht der stärkste Beleg.
Insgesamt wurde jedoch deutlich: Siedlergesellschaften befinden sich auch untereinander im Austausch, um im Umgang mit ihren besonderen Herausforderungen einen Kompass zu gewinnen. Der Blick der US-Amerikaner nach Europa ist seit Daniel Rodgers „Atlantic Crossings“ gut dokumentiert, da kann man Lake als transpazifisches Komplement betrachten. Während in den beiden anderen Büchern Themen in Mittelpunkt standen, deren humanitäre Bewertung kein tiefes Grübeln erfordert, liefert Lake die schmerzliche Erkenntnis, dass gerade Sozialreform ein Doppelgesicht hatte: Neben die Hoffnung auf politisch-sozialen Fortschritt tritt die Selbstbehauptung gegenüber Nichtweißen. Vielleicht hatten Siedlergesellschaften durch die Präsenz der Indigenen ja einen besonderen Anreiz, die eigene Gesellschaft durch Reformpolitik voranzubringen – weil die anderen dann, wenn man schwächlich zurückblieb, vielleicht irgendwann übermächtig würden.
Im zweiten Teil der Sitzung stand der Aufatz „The Vanishing Endpoint of Settler Colonialism“ von Elizabeth Strakosch und Alissa Macoun zur Diskussion. Es war die erste Begegnung mit einem theorielastigen, moralisch rigorosen Tonfall, der einen erheblichen Teil der einschlägigen Literatur prägt. Aber wenn man mit einem Schreibstil fremdelt, sollte man sich sorgfältig prüfen, was denn das Problem ist: die Thesen? Die eigene Rolle als weißer Mann, der hier auf der Anklagebank sitzt? Oder das Fehlen für jedes Sensorium für Veränderung, jedenfalls wenn es in Form westlicher Fortschrittsnarrative daherkommen möchte? Letzteres war die zentrale Kritik des Aufsatzes, der jegliches Bemühen um Versöhnung und Reformpolitik als teleologisches Streben nach einer Zäsur, einem historischen Bruch kritisierte, der sich real immer weiter in die Zukunft verschiebt. Das Streben nach einem Schlussstrich wird hier mit jener kategorischen Absolutheit demontiert, für die postkoloniale Kritiker berühmt sind.
Man kann das Spiel natürlich auch in umgekehrter Richtung betreiben. Ein Student versuchte zu antworten mit dem Hinweis, es sei doch eine paternalistische Unterstellung, Indigenen ein grundsätzlich anderes Denken zuzuschreiben. In Lakes Buch findet sich eine durchaus irritierende Erörterung von „indigenous progressivism“, wo sich Indigene unrettbar intellektuell verheddern, indem sie Sprache und Anliegen des Progressivism für die eigene indigene Gemeinschaft mobilisieren wollen und damit unvermeidlich eine Assimilationspolitik leben. Oder sollte man sich da unschuldig stellen und sich freuen, dass Indigene für Bildung, Effizienz, Expertise, Reformpolitik eintraten – das große Paket des Progressivism, das ja selbst eher ein grober Sammelpunkt für unterschiedliche Anliegen war. Man sieht die Inkonsequenz beim anderen immer viel leichter als in der eigenen Innenwelt.
Wer intellektuelle Reinheit mag, wird in der postkolonialen Literatur immer gut bedient. Nur kommt man dann leicht an einem Punkt, wo der völlige Abbruch jeglichen Kontakts als einzige politisch-moralisch vertretbare Lösung erscheint – und das kann es ja nun auch nicht sein. Es ist schon deprimierend, wie Strakosch und Macoun die verschiedenen australischen Politiken der jüngsten Vergangenheit – reconciliation, neo-liberal contractualism, intervention – schon deshalb verdammen, weil damit ein transformativer Moment produziert werden soll, ein symbolträchtiger Bruch mit einer üblen Vergangenheit. Das ist von inneren Absichten der weißen Akteure völlig unabhängig, übrigens auch von der sozioökonomischen Lage der Indigenen, die hier gar nicht als legitimes Thema in den Blick kommt. Das ist der Punkt, wo ich mich frage, ob die postkoloniale Kritik nicht letztlich auf eine Verbrüderung mit Menschen hinausläuft, die man gar nicht so genau kennt und auch nicht kennenlernen will. Wenn Indigene nur noch als Schachfiguren in einem intellektuellen Spiel fungieren, ist das nicht nur ein fachwissenschaftliches Problem.
Das Instrumentarium der Geschichtswissenschaft will man nach der Lektüre von Strakosch und Macoun gleich steckenlassen. Differenzierung, Nuancen, Multiperspektivität – all das tut bestenfalls nichts zur Sache und ist schlimmstenfalls eine weitere Zumutung westlichen Denkens. Als Historiker fühlt man sich da wie eine Art Müllmann, der eine anrüchige Geschichte nach Skript in vorgefertigte Begriffscontainer entsorgt: kann man alles klassifizieren, aber halt nicht intellektuell verdauen und auch nicht historisch einordnen. Wenn der Endpunkt eine moralische Obszönität ist, wirkt es, als sei Siedlerkolonialismus zum ewigen Vegetieren in seinen eigenen Aporien verdammt. Aber vielleicht ist das ja zu verkopft?
In der Diskussion von Goodall monierte eine Studentin das Ende: glücklich erschöpfte Aborigines, die am Australia Day 1988 erst ausgiebig tanzen und dann ihre eigene Rituale des Heilens pflegen. Ist das nicht arg märchenhaft nach 200 Jahren Kampf ums Land auf allen Ebenen? Aber vielleicht helfen ja Rituale, wenn Worte versagen, und vielleicht gibt es die auch in einer säkularen Form. So schloss die Vorlesung mit einem Ausschnitt aus der Abschlussfeier der Olympischen Spiele in Sydney 2000. Midnight Oil spielte „Beds are Burning“, ein Lied über das Elend der Aborigines, geschrieben nach einer Konzerttour durchs Outback, und auf den schwarzen Overalls stand „sorry“ – das Wort, das Premierminister John Howard damals nicht aussprechen wollte. Klar, nicht jeder denkt bei einer solchen Party über den Text nach. Aber wer hören will, der hört:

„The time has come.
A fact’s a fact.
It belongs tot hem.
Let’s give it back.“

Kein flüchtiger Endpunkt, aber eine starke Szene. Oder wäre auch das nicht okay, Frau Strakosch?

Der Auftritt ist nachzusehen auf diesem Video auf Youtube.

5. November 2024
Heute ist bestimmt nicht der beste Tag, um über okzidentalen Rationalismus zu sprechen. In den USA entscheiden die Wähler, ob sie noch einmal vier Jahre unter einem Präsidenten Trump leben wollen, und nach all den Lügen, gefälschten Videos und unhaltbaren Versprechungen kann man wohl sagen: Rational ist das nicht. Das ist ja schon länger das große Problem für alle, die nicht auf der rechtspopulistischen Welle surfen wollen. Das ist nicht nur ein Angriff auf grundlegende Werte des Zusammenlebens, ein Thema, bei dem ich nach zehn Jahren als Migrant naturgemäß besonders sensibel bin. Es geht auch darum, dass das alles rein logisch nicht zusammenpasst: die Worte nicht zu den Werten, die Ambitionen nicht zu den Zielen, die Methoden nicht zu den verfügbaren Ressourcen. Wer mag da noch über Rationalisierung sprechen?
Trotzdem begann ich meine heutige Veranstaltung mit ein paar Worten zum Thema, denn die abendländische Rationalisierung ist ein Eckpfeiler für ein Projekt, das grundlegend für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist: das Projekt der Moderne. Industrialisierung, Demokratisierung, Verrechtlichung, Verwissenschaftlichung – das sind nicht alles isolierte Prozesse, die irgendwie zufällig zur gleichen Zeit einsetzen. Es gibt eine tiefe Verbindung zwischen den einzelnen Entwicklungen, einen Zusammenhang, der all diesen Prozessen seine transnationale Wirkmacht verleiht, und dieser Kitt ist ganz wesentlich das rationale, aufgeklärte Denken. Die Moderne hat einen ganz eigenen Sog, eine Art inhärente Unwiderstehlichkeit. Sie ist nicht alternativlos, schon gar nicht automatisch, es gibt Rückschritte und jede Menge Störgeräusche. Aber es gibt ein Telos der Geschichte und die Möglichkeit des Fortschritts.
Die große Zeit der Modernisierungstheorie waren die Nachkriegsjahrzehnte, in der sich das Modell mit der lebensweltlichen Erfahrung verschränkte. Demokratie, Wohlstand, Rechtsstaat, Wissenschaft und Technik – es wurde schon sehr viel sehr viel besser. Inzwischen ist uns diese Gewissheit verloren gegangen, aber es lohnt sich nachzudenken, was eigentlich neuerdings fehlt. Die Werte leben weiter, gerade auch in der rechtspopulistischen Rhetorik. Was fehlt, ist das Gefühl einer klaren, zumindest halbwegs stringenten Entwicklung. Es gibt keinen Fortschritt mehr, nur noch Krisen – zumindest fühlt es sich so an.
Warum ich all dies an den Anfang der Veranstaltung stellte? Hinter den unterschiedlichen Lesarten des Siedlerkolonialismus verbirgt sich auch die Frage, ob man noch an die Vorstellung von der Einheit der Geschichte glaubt. Gibt es noch die eine Erzählung, oder widmen wir uns vielmehr der Vielzahl von eigenen Narrativen, die Gruppen, Familien, Individuen für sich selbst entwickeln und kümmern uns nicht mehr um das große Ganze? In der heutigen Sitzung ging es um zwei Versuche, das große Ganze einer Gesellschaft zu verstehen, und in beiden Fällen standen sozioökonomische Prozesse im Mittelpunkt. Der moderne Kapitalismus schafft Unterschiede, aber auch Verbindungen – auch Ausbeutungsprozesse sind ja Verbindungen. Im Wirtschaftsleben gibt es noch am ehesten das große Ganze, jedenfalls dann, wenn dieses Wirtschaftsleben auf Arbeitsteilung und intensivem Austausch beruht, wie das beim modernen Kapitalismus der Fall ist.
Als erstes Buch stand "Why Nations Fail" von Daron Acemoglu und James Robinson zur Diskussion, zwei der drei Wirtschaftswissenschaftler, die in diesem Jahr den Nobelpreis erhalten. Es ist ein dickes Buch mit über 400 Seiten, auch wenn es die vielleicht nicht alle gebraucht hätte: Ein Referent beschwerte sich, dass es sich schon öfters wiederholt. Willkommen in den Wirtschaftswissenschaften! Da braucht es klare Modelle, Relationen, Konzepte, wenn man sich einen Namen machen will, und die sind hier die inklusiven und die extraktiven Institutionen. Acemoglu und Robinson betonen den Zusammenhang von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und nachhaltigem Wachstum, und die Verbindung sind demokratische Institutionen, die der Kontrolle durch eine breite Wählerschaft unterliegen – in ihrer Terminologie inklusive Institutionen. Die fallen nicht vom Himmel, sondern entwickeln sich durch den „virtuous circle“ – der Gegenbegriff zu Teufelskreis. Dazu gibt es ein Video, das die ReferentInnen auf einer PowerPoint-Folie zeigten, aber dankenswerterweise nicht abspielten.
Erzählungen von Modernisierungen sind qua Definition generalistisch, und das prägte mehrere Kommentare. Läuft das nicht auf ein simples, unterkomplexes Skript hinaus, auf Beliebigkeit in der Wahl der Beispiele, auch auf einen Fatalismus, wenn man halt in einem Land mit Institutionen auf dem falschen Gleis fährt? Acemoglu und Robinson betonen die Kontingenz der Geschichte, aber der besagte Sog ist auch hier spürbar. Das ist ja auch kein Baufehler, sondern der Kern des Ganzen: Die Dinge hängen halt zusammen und bewegen sich als Gesamtpaket in eine gewisse Richtung.
Mit Blick auf Siedlerkolonialismus war das größte Problem, dass die entsprechenden Länder in diesem Buch ziemlich gut abschneiden. Das Dumme ist nur: Die inklusiven Institutionen dieser Länder stehen für weite Teile ihrer Geschichte nur im Dienste weißer Menschen. Für dieses Thema sind die beiden Ökonomen denkbar wenig sensibilisiert: Sie wollen Wachstum, Wohlstand, einen stabilen, Innovation und Produktivität belohnenden Rahmen, der vielen Menschen dient – und wenn die „vielen“ halt nicht „alle“ sind, macht das doch keinen großen Unterschied von den luftigen Höhen der Wirtschaftswissenschaften. Das ist nur halt anders, wenn man nicht zu den „vielen“ gehört, und zwar qua Geburt.
Das Problem ist nicht gering, denn nach der Lektüre von Rana sind wir für das Doppelgesicht der Freiheit sensibilisiert. Man kann starke, robuste, rechtsstaatlich kontrollierte Institutionen gut brauchen, um Eigentumsrechte zu sichern und all die anderen Dinge, die der moderne Kapitalismus braucht. Den gleichen Staat kann man aber nutzen, um Menschen auszugrenzen und zu marginalisieren, die man nicht mag – wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft, Ethnie oder allem zugleich. Siedlergesellschaften basieren auf Ausgrenzung, und einer der wichtigsten Mechanismen ist staatliche Macht. Gerade die wahrgenommene Bedrohung der Siedler durch die anderen schafft einen Anreiz, staatliche Macht zu akzeptieren. So gesehen sind die inklusiven Institutionen der Siedlergesellschaften auch deshalb so robust, weil sie halt nicht jeden einbeziehen.
Wir müssen also schon über die Kühle des modernisierungsgeschichtlichen Blicks reden. Die tiefgekühlte Fassung liefert Lachlan McNamee in seinem Buch "Settling for Less": Dekolonisierung als höchste Stufe der kapitalistischen Entwicklung – mit freundlichen Grüßen an alle Marxisten. Ein Referent bemerkte, dass man beim Lesen merkt, dass McNamee kein Historiker ist (sondern Politologe mit Interesse an Demographie und Wirtschaftswissenschaften). Aber deshalb lesen wir ja diese Bücher: Vielleicht übersehen wir im Klein-Klein des historischen Handwerks ja die großen Trends.
McNamee schreibt vor allem über das 20. Jahrhundert. Damit stehen vor allem Länder im Mittelpunkt, die weiter kolonisieren und nicht westlich sind, die große Zeit der weißen Siedlung vor 1900 bleibt im Hintergrund. Er schreibt auch mit spürbarer Unlust über Rassismus und politische Radikalisierung – halt irgendwie irrational. McNamee schreibt über eine Welt, in der Akteure vernünftige Entscheidungen im Lichte ihrer sozioökonomischen Interessen treffen.
Das sieht konkret so aus: Ein Staat siedelt nur, wenn er das aus staatspolitischer Notwendigkeit für geboten hält. Oft sind jedoch Siedler die treibenden Kräfte, der Staat folgt dessen Wünschen nach Schutz und Unterstützung mit einer Haltung, die McNamee als "strategic fatalism“ tituliert: Wenn es denn sein muss, schickt man halt das Militär oder andere Kräfte, um Siedler zu unterstützen und die Gründung unabhängige Republiken zu verhindern – aber das kostet und kann zu langen Konflikten führen. So kam dann aus dem Publikum eine offenbar von Putin inspirierte Frage: Was ist, wenn der Staatschef ein anderes Land nicht anerkennt? Dann sagt McNamee lediglich, dass der Mann doch bitte mal an die Kosten denken möge.
Die Rationalitätsunterstellung ist zweifellos ein großes Defizit dieses Ansatzes. Dafür sensibilisiert das Buch für die unterschiedlichen Interessen von Siedlern und Staat: Sie agieren gemeinsam, aber ihre Sicht und ihre sozioökonomischen Kalküle klaffen auseinander. Das Buch zeigt auch, wie sich die Welt auflöste, in der freies Land noch ein Sehnsuchtsobjekt war. Wenn der Wohlstand in den urbanen Zentren zentriert ist, ziehen Siedler nicht mehr hinaus in ländliche Räume – eine Behauptung, die McNamee eindrucksvoll mit demographischen Analysen untermauert. Selbst China scheitert neuerdings mit Siedlungsprojekten im Nordwesten, weil die Großstädte locken.
Es bleibt bei beiden Büchern die Sprache. Beide Bücher dieser Sitzung pflegen einen distanziert-akademischen Sprachduktus, und man weiß nicht, ob das jetzt die Nüchternheit der guten Wissenschaft ist oder die Abgehobenheit der globetrottenden Intellektuellen. Darf man so schreiben, wenn es um das Leiden von Menschen geht, um Gewalt, um ausweglose Situationen, in denen nur noch der Frust wächst? Sprache ist nie ein bloßes Medium, sondern immer auch Teil der Analyse. Und man muss nicht zur emphatischen Schule der Geschichtswissenschaft gehören, um bei diesen beiden Büchern ein gewisses Frösteln zu verspüren.

29. Oktober 2024
Wer eine Veranstaltung über Siedlerkolonialismus macht, darf keine Angst haben vor dem G-Wort: Genozid. In der dritten Sitzung stand es erstmals im Zentrum, und bewusst stand dabei nicht die Definition im Mittelpunkt, sondern das Ereignis: die Folgen des US-amerikanischen Siedlerprojekts für die Menschen, die auf dem Territorium der späteren USA lebten. Wir werden in den letzten Sitzungen des Hauptseminars noch ausführlich über Wege der Erinnerung reden und über die Gespenster des 20. Jahrhunderts, die unser Reden über Genozide prägen. Aber zunächst steht die Ereignisgeschichte im Mittelpunkt, die Realgeschichte in Unterscheidung von der erinnerten Geschichte, und das mit gutem Grund. Erinnerungsforschung wird sehr schnell sehr luftig, wenn man sich nicht zunächst mit gebotener Sorgfalt dem historiographischen Kerngeschäft widmet.
Im Mittelpunkt dieser Sitzung standen zwei Überblicksbücher zur Geschichte der Vereinigten Staaten. Die "Indigenous People’s History of the United States" von Roxanne Dunbar-Ortiz ist eine klassische Synthese für einen breiten Leserkreis, der über Fachhistoriker hinausweist. Sie steht in der Tradition des Geschichtsrevisionismus von Howard Zinn’s "People’s History of the United States", die die marginalisierten Gruppen in den Mittelpunkt stellt und gängige Narrative als Elitenkonstrukte entlarvt. Der Schatten des "Manifest Destiny" ist lang, weitaus länger, als man sich eingesteht. Jeder weiß, was mit den Indianern passierte, aber nicht jedem ist klar, was das für die historische Erzählung des Landes bedeutet bzw. bedeuten sollte. Dunbar-Ortiz sieht das nicht als separates Kapitel einer einzelnen Gruppe, als abgrenzbares Teilgebiet, sondern als alternative Gesamtgeschichte. "This is a history of the United States", lautet der letzte Satz der Einleitung.
Im Mittelpunkt stehen die kriegerische Gewalt und die justizförmige Entrechtung sowie die Geschichte des Widerstands der Indigenen. Das ist eine Geschichte voller Blut und Leid, und da sind Ausweichbewegungen verlockend: Muss das wirklich so im Mittelpunkt stehen, in all seiner Entsetzlichkeit? Kriege verleiten zum Denken in Schwarz und Weiß und Vernichtungskriege erst recht, und wenn eine ethnische Gruppe ein Siedlungsprojekt von kontinentalen Dimensionen überlebt, dann wirkt die gründliche Dokumentation des grausigen Geschehens wie eine moralische Pflicht. Einerseits. Andererseits war in der Diskussion auch ein Unwohlsein zu spüren mit einer historischen Erzählung, in der die historischen Akteure vor allem als Gewaltopfer und Krieger auftauchten. Ist das wirklich alles, was wir erzählen sollten?
Eine Studentin warf die Frage auf, wo denn hier die Geschichte die Frauen bleibt. Weibliche Akteure hätten in dem Buch zweifellos mehr Profil gewonnen, wenn sich Dunbar-Ortiz mehr um Leben und Überleben zwischen den Kämpfen gekümmert hätte. Aber das alltägliche Wirtschaften kommt in dem Buch nur am Rande vor. Der Aufschwung der Kasinos in den Reservaten wird zum Beispiel nur ziemlich pflichtschuldig abgehandelt, und das ist vielleicht nicht nur ein Spiegel eines gewissen Reputationsproblems des Glückspiels. Wie redet man über das Alltagsleben von Menschen, die um ihr individuelles und kollektives Überleben kämpfen? Es wird nicht das letzte Mal sein, dass unsere Veranstaltung mit der hypnotischen Macht der Gewalterfahrung ringt. Wenn man in einer Leidensgeschichte über anderes redet, wirkt das leicht verharmlosend, so auf der Linie: Es gab aber auch gute Zeiten.
Dunbar-Ortiz bleibt insofern auf historiographischer terra firma. Rezensenten haben einzelne Zitat moniert, aber an der moralischen Obszönität des Siedlerkolonialismus und der Realität der Vernichtungskriege lässt sich nicht rütteln – die Frage ist eher, ob man das als Geschichte der USA zulässt und nicht nur als segregiertes Spezialgebiet. Das zweite Buch dieser Sitzung, Aziz Ranas "The Two Faces of American Freedom", ist thematisch affin und doch ganz anders. Es ist weniger eingängig geschrieben, und das ist nicht der einzige Grund, warum es eine zutiefst ambivalente Lektüre bietet. Einerseits betont Rana, wie die Siedlergesellschaft bestimmte Gruppen (Indigene, Schwarze, Frauen) rigoros vom Versprechen der Freiheit ausschloss: Kontrolle über Land und Menschen war das andere Gesicht der Freiheit für weiße Siedler. Andererseits favorisiert er eine Vision von freiheitlichem Leben, die eigentlich nur als Radikalisierung des Freiheitsversprechens gelesen werden kann: grenzenlose, egalitäre Freiheit, wie sie nur dezentrale, lokale Gemeinschaften sichern konnten, aber eben nicht die US-amerikanische Zentralgewalt der Verfassung. So ist die Siedlergesellschaft der USA auch ein gebrochenes Versprechen radikaler Freiheit, das einen Schatten auf alles Folgende wirft – auch die rechtliche Emanzipation der nichtweißen Bevölkerung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist für Rana keineswegs der Durchbruch lange überfälliger Gleichberechtigung: „rather than democratizing all of collective life, inclusion has become a means for incorporating previously subordinated communities into leadership roles“ (S. 328).
Man muss Ranas Vision radikaler demokratischer Freiheit nicht teilen, aber das Buch sensibilisiert für die Schwierigkeit, über Freiheit an der Frontier zu reden – jedenfalls dann, wenn man es nicht bei der moralischen Klage über die Entrechtung und Ermordung der Indigenen belassen will. Gab es vielleicht tatsächlich eine Chance, das eigene Leben tatsächlich in die eigene Hand zu nehmen, ohne die Aufdringlichkeit der modernen Staatsgewalt? Und wenn ja – wie hätte eine politische Ordnung aussehen könnten, die diese Freiheit bewahrt? Anders formuliert: Hatten die radikalen populistischen Visionen eines Thomas Skidmore, der Selbstbestimmung als universales (also nicht bloß weißen Siedlern zustehendes) Recht propagierte und von Rana mit offenkundiger Sympathie präsentiert wird, eine reelle Chance, oder war das eine Träumerei, die in der Welt der Realpolitik unweigerlich Schiffbruch erleiden musste?
Rana ist von Haus aus Jurist, und da sind erst einmal Rechtstitel im Blick. Aber Rechtstitel machen allein noch keine politische Ordnung, und erst recht sind sie weit weg von einem tragfähigen ökonomischen Regime. Die Zwänge kapitalistischer Distanzbeziehungen, von Cronon so plastisch beschrieben, kommen bei ihm als unheilvolle Bedrohung der Siedlerautonomie vor, der New Deal mit seinem Versprechen sozioökonomischer Sicherheit erscheint hier als Bedrohung partizipativer Bürgerschaft. Da wirkt es, als ob Rana den urbanen Industriekapitalismus vielleicht zu sehr durch die Brille der Siedlergesellschaften sieht. Aber wo und wie zieht man da in den USA die Grenze? Und ist Ranas Darstellung mehr als ein einzelner Strang einer Geschichte, in der sich eine Mehrzahl von Erzählungen verweben? Ein wenig fühlte ich mich am Ende der Sitzung wie in der Fabel der Blinden, die einen Elefanten ertasten. Jeder hat ein eigenes Narrativ mit jeweils eigenen Perspektivierungen. Aber was bleibt dann von der Einheit der Geschichte?

15. Oktober 2024
Empört Euch! So hieß die Streitschrift, mit der Stéphane Hessel 2010 Furore machte. Und das nicht nur, weil es selten gut endet, wenn Menschen jenseits des 90. Geburtstags eine Streitschrift veröffentlichen. Ein wenig vermisste ich die Devise in der heutigen Sitzung. Gewiss, eine kühle Distanz gehört zum akademischen Habitus. Aber heute hätte ich gerne einen Studierenden gehört, der mal mit den Konventionen bricht. Zum Beispiel so: Frederick Jackson Turner war ein rassistischer Chauvi, der sich nur für die Gewinner interessierte. Das wäre auch sachlich vertretbar gewesen. Turner wird seit 130 Jahre gelesen und diskutiert, und da klagt selten jemand über eine allzu große Sensibilität für all jene, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.
Sein Essay „The Significance of the Frontier in American History“ lädt vom Stil her freilich nicht zur Empörung ein. Turner pflegte einen nüchternen akademischen Stil. Brutal war der Inhalt: die Frontier als der Ort, an dem der amerikanische Charakter geprägt wurde. Stark, unternehmenslustig, praktisch veranlagt, experimentierfreudig, voll unruhiger Energie. Das passt eher schlecht auf Indigene oder auf Frauen, die es an der Frontier ja auch gab. Der weiße Mann als Held, jedenfalls dann, wenn er es packt. Selbst als ich Turners Bemerkung zitierte, die Sklaverei werde bestimmt mal als Fußnote der amerikanischen Geschichte („incident“) erkannt, wurde es im Raum nicht unruhig. Vielleicht erwarten heute Studierende vom späten 19. Jahrhundert nichts Besseres? Ich warf schließlich Laramie, Wyoming in die Debatte, den ersten Ort der Weltgeschichte, in dem anno 1870 Frauen als Geschworene auf der Bank saßen. Eigentlich hatte ich mir mit Blick auf die knappe Zeit Abschweifungen verkneifen wollten, aber das musste einfach sein. Es war ja auch nur konsequent, dass Frauen in Wyoming als Geschworene fungierten. Das Wahlrecht hatten sie ja schon im Vorjahr bekommen.
Natürlich hatte ich im Vorfeld der Veranstaltung überlegt, ob man Turner wirklich diskutieren sollte. Ein Klassiker, aber auch tief in der Mottenkiste. Das Dumme ist nur, dass die These innerhalb ihrer gesetzten Grenzen vielleicht gar nicht so falsch ist. Leben an der Frontier prägt Menschen, und für die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft war das „freie Land“ schon ziemlich wichtig. Klar war es nicht wirklich frei, aber Vorstellungen machen halt auch dann Geschichte, wenn sie falsch sind.
Die moralische Kritik gibt es dann in geballter Form in der nächsten Sitzung, wenn wir Dunbar-Ortiz’s „Indigenous People’s History of the United States“ besprechen. Heute gab es als Gegenentwurf Bill Cronons „Nature’s Metropolis“. Immer noch ein beeindruckendes Werk nach mehr als 30 Jahren, eine echte Tour de Force über die Koevolution des „Great West“ und der Metropole Chicago. Da wirkt die Frontier ganz anders: nicht als abgeschiedener Hort des Individualismus, sondern als eng und unerbittlich verknüpft mit der Zentrale. Darin bestand seinerzeit der Clou des Buchs. Plötzlich war das Ringen mit der Wildnis Teil von gesichtslosen Warenströmen.
Wir diskutierten die Wege der Kommodifizierung, die Anonymisierung, die Qualitätskontrolle und die Kriterien, die ihr zugrunde lagen. Ein netter Nebeneffekt: Man konnte mal was Positives über Populisten sagen, das geht ja heute nicht mehr so leicht. Im Amerika des späten 19. Jahrhunderts war der Populismus jedoch eine Protestbewegungen auf dem Land, die sich gegen betrügerische Geschäftspraktiken in den Metropolen wandte: Eisenbahngesellschaften, die ihre lokalen Monopole ausnutzten, und Getreidehändler mit großen Silos, in die niemand hineinschauen konnte. Da war es ein politischer Kraftakt, gewisse Spielregeln in das freie Spiel der Kräfte einzufügen. Man kann auch sagen, dass die Metropole die Möglichkeiten der Marktmanipulation ausreizte, bis ihr das Handwerk gelegt wurde. Wie gesagt: Empört Euch!
So bot die Beschäftigung mit Cronon einen Vorgeschmack auf die Nüchternheit des modernen Kapitalismus: Bitte keine Sentimentalitäten, es geht um Warenströme. Das Verschwinden der Indianer kommentiert Cronon ziemlich lakonisch, was aber irgendwie auch konsequent ist. Auch weiße Männer bleiben bei Cronon ziemlich gesichtslos. Als Handels- und Transfersystem hatte das Zusammenspiel von Chicago und seinem Hinterland etwas Grandioses: billiges Getreide, Fleisch, Holz für die Welt, zirkulierend in einem System, das binnen weniger Jahrzehnte aus dem Nichts entstand. Nur ging es halt nicht nur um Warenströme, sondern auch um Menschen. Aber wie redet man darüber, ohne in billige Sentimentalität zu verfallen?

8. Oktober 2024
Vielleicht wird man ja paranoid, wenn man eine Veranstaltung über Siedlerkolonialismus anbietet. Gestern ging ich von der U-Bahn-Station zur Ruhr-Universität und erschrak. Auf der Unibrücke gab es eine Demonstration mit deutlichem Männerüberschuss, jemand schwenkte eine schwarze Fahne, und es war der erste Jahrestag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel. Natürlich war mir klar, dass ich mich damit im Laufe des Semesters würde beschäftigen müssen. Man kommt um den Themenkomplex Palästina/Israel nicht herum, wenn man eine Lehrveranstaltung über Siedlerkolonialismus macht. Aber muss das denn gleich am ersten Tag des Semesters sein, noch vor dem ersten Kaffee? Dann sah ich, was auf der schwarzen Fahne stand. Es war Semesterbeginn, und auf der Unibrücke versammelten sich die angehenden Bauingenieure.
Aber irgendwie passte das auch zum Thema. Man kann problemlos in einem Land wie den USA leben, ohne über das Wort „Siedlerkolonialismus“ nachzudenken. Aber wenn man das Wort einmal ausgesprochen hat und in seiner ganzen historisch-moralischen Signifikanz begreift, sieht die Welt plötzlich anders aus. Die Vereinigten Staaten sind ein Produkt eines globalen Projekts, das uns vollkommen fremd geworden ist. Weiße Europäer erschließen Land auf anderen Kontinenten, wirtschaften erfolgreich, oft unterstützt vom Netzwerk des westlichen Kolonialismus, sie bauen Gemeinschaften, Gesellschaften, Nationen, und all dies geschieht nicht nur unter den Augen der indigenen Bevölkerung, sondern oft im gewaltförmigen Konflikt bis hin zum Genozid. Kein vernünftiger Mensch käme heute noch auf die Idee, in der Manier weißer Siedler irgendwo auf diesem Planeten Land zu erobern. Aber zugleich stecken wir in diesem Projekt immer noch ganz tief drin.
Wer eine geschichtswissenschaftliche Konferenz in den USA besucht, wird bei der Eröffnung oft Zeuge eines „land acknowledgements“. Damit werden die indigenen Ureinwohner gewürdigt, und zwar als die Besitzer des Landes, auf dem man gerade tagt. Das hat dann zumeist keine Folgen für den weiteren Verlauf der Veranstaltung, schon weil man in den oft fensterlosen und gründlich klimatisierten Konferenzräumen amerikanischer Luxushotels kaum noch glauben mag, dass da unten irgendwo reales Land existiert. Aber was ist, wenn man das „land acknowledgement“ tatsächlich ernst meint? Dann landet man irgendwann bei der Frage, ob man das Grundstück, auf dem das eigene Haus steht, eigentlich noch guten Gewissens sein Eigen nennen darf. Ich habe es schon erlebt, dass über eine solche Frage diskutiert wurde, und zwar nicht unter rechtspopulistischen Wirrköpfen, sondern unter nachdenklichen Akademikern, die die Frage umtrieb, was eigentlich nach den Kalendersprüchen kommt.
Damit ist bereits deutlich: Für mich ist Siedlerkolonialismus kein Thema, dem ich mit persönlicher Unbefangenheit begegne. Ich habe in den USA studiert und insgesamt etwa drei Jahre in den USA verbracht, ich habe auch einige Wochen in Israel gelebt, weil meine Partnerin ein Praktikum in Haifa machte, und bevor ich nach Bochum kam, war ich zehn Jahre in England. Da traf ich das Erbe des Siedlerkolonialismus zum Beispiel in Form der Schulkameraden meiner Tochter. Als Historiker lebt man nicht einfach in Hier und Jetzt, sondern fragt nach der Herkunft von Vermögen, Privilegien, Aufenthaltsrechten. Aber wenn man das an Orten macht, die aus Siedlergesellschaften hervorgingen, öffnet sich da bisweilen ein Abgrund.
Da kann man einfach schweigen. Es ist schon erstaunlich, wie lange manche Siedlergesellschaften damit durchgekommen sind. Inzwischen ist das keine Option mehr: „Settler colonialism“ ist ein anerkanntes Thema der historischen Forschung mit einer beständig wachsenden Literatur. Das Hauptseminar bahnt sich einen Weg durch diese Literatur, mit besonderer Beachtung von fünf Siedlergesellschaften auf vier Kontinenten: USA, Australien, Algerien, Zimbabwe und Palästina/Israel. Das sind zwei quicklebendige Gesellschaften mit weißer Bevölkerungsmehrheit, zwei gescheiterte Siedlergesellschaften und ein Land im Krieg. Es ist der Weg, den man als Geschichtswissenschaftler nehmen sollte, wenn man sich mit fremden Ländern konfrontiert sieht: gute Bücher suchen, gründlich lesen und darüber nachdenken. Und dann reden wir darüber.
Das Gespräch ist der Kern eines Hauptseminars. Aber wie redet man angemessen über Siedlerkolonialismus? Eine wissenschaftlich akzeptable Redeweise sollte präzise und nüchtern sein, aber zugleich erlittenes Leid und begangenes Unrecht klar benennen. Sie sollte perspektivieren, ohne zu relativieren. Sie sollte Menschen ansprechen, aber zugleich zum Nachdenken anregen. Da sollte niemand sicher sein, immer garantiert die richtigen Worte zu finden.
So drehte sich ein erheblicher Teil meiner einführenden Bemerkungen heute um das Reden über das Reden. Wir müssen uns immer wieder dafür sensibilisieren, was in unseren Bemerkungen, Sichtweisen, Narrativen mitschwingt – auch und gerade für das, was uns gar nicht bewusst sein mag. Das wird beim hiesigen Thema leicht unangenehm, um nicht zu sagen schmerzhaft, aber da müssen wir durch – auch ich als Dozent. Mein einziger Wunsch an alle TeilnehmerInnen: Bitte gehen Sie davon aus, dass alle Anwesenden sich redlich und in Anerkenntnis der menschlichen Abgründe um angemessene Worte bemühen, jedenfalls so lange, wie Sie nicht das Gegenteil beweisen können.
Wenn man sich als Wissenschaftler in eine tagespolitische Debatte einmischt, dann schwingt meist die Hoffnung mit, dass man mit gesicherten historischen Kenntnissen und Methodenkompetenz klüger diskutieren kann. Aber was heißt das beim hiesigen Thema? Soll man wirklich auf Sachlichkeit setzen, wenn Menschen ihre Würde verlieren, ihr Land oder gar ihr Leben? Es geht beim hiesigen Thema um moralische Koordinatensysteme, die einfach nicht zueinander passen, um Erzählungen, die ohne den Gestus der Anklage oder das Gefühl von Scham nicht kommunizierbar sind, um Erinnerungen, die mit ethnischen Identitäten aufs engste verknüpft sind. Da wirkt die Kühle einer soliden geschichtswissenschaftlichen Diskussion leicht wie ein schrecklich naives Projekt. Aber vielleicht ist ja schon etwas gewonnen, wenn man etwas besser versteht, was da eigentlich passiert ist und was das für andere Menschen bedeutet. Die Zeiten sind vorüber, in denen wir eine einzelne Meistererzählung der weißen Siedler hatten. Ob wir mit mehr als einer Erzählung leben können, muss sich erst noch erweisen.
Nein, ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob wir in dieser Veranstaltung die richtigen Worte finden werden. Aber ich bin mir sehr sicher, dass wir es versuchen müssen.