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Blog zum Hauptseminar "Die Siedler. Eine Weltgeschichte"

8. Oktober 2024
Vielleicht wird man ja paranoid, wenn man eine Veranstaltung über Siedlerkolonialismus anbietet. Gestern ging ich von der U-Bahn-Station zur Ruhr-Universität und erschrak. Auf der Unibrücke gab es eine Demonstration mit deutlichem Männerüberschuss, jemand schwenkte eine schwarze Fahne, und es war der erste Jahrestag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel. Natürlich war mir klar, dass ich mich damit im Laufe des Semesters würde beschäftigen müssen. Man kommt um den Themenkomplex Palästina/Israel nicht herum, wenn man eine Lehrveranstaltung über Siedlerkolonialismus macht. Aber muss das denn gleich am ersten Tag des Semesters sein, noch vor dem ersten Kaffee? Dann sah ich, was auf der schwarzen Fahne stand. Es war Semesterbeginn, und auf der Unibrücke versammelten sich die angehenden Bauingenieure.
Aber irgendwie passte das auch zum Thema. Man kann problemlos in einem Land wie den USA leben, ohne über das Wort „Siedlerkolonialismus“ nachzudenken. Aber wenn man das Wort einmal ausgesprochen hat und in seiner ganzen historisch-moralischen Signifikanz begreift, sieht die Welt plötzlich anders aus. Die Vereinigten Staaten sind ein Produkt eines globalen Projekts, das uns vollkommen fremd geworden ist. Weiße Europäer erschließen Land auf anderen Kontinenten, wirtschaften erfolgreich, oft unterstützt vom Netzwerk des westlichen Kolonialismus, sie bauen Gemeinschaften, Gesellschaften, Nationen, und all dies geschieht nicht nur unter den Augen der indigenen Bevölkerung, sondern oft im gewaltförmigen Konflikt bis hin zum Genozid. Kein vernünftiger Mensch käme heute noch auf die Idee, in der Manier weißer Siedler irgendwo auf diesem Planeten Land zu erobern. Aber zugleich stecken wir in diesem Projekt immer noch ganz tief drin.
Wer eine geschichtswissenschaftliche Konferenz in den USA besucht, wird bei der Eröffnung oft Zeuge eines „land acknowledgements“. Damit werden die indigenen Ureinwohner gewürdigt, und zwar als die Besitzer des Landes, auf dem man gerade tagt. Das hat dann zumeist keine Folgen für den weiteren Verlauf der Veranstaltung, schon weil man in den oft fensterlosen und gründlich klimatisierten Konferenzräumen amerikanischer Luxushotels kaum noch glauben mag, dass da unten irgendwo reales Land existiert. Aber was ist, wenn man das „land acknowledgement“ tatsächlich ernst meint? Dann landet man irgendwann bei der Frage, ob man das Grundstück, auf dem das eigene Haus steht, eigentlich noch guten Gewissens sein Eigen nennen darf. Ich habe es schon erlebt, dass über eine solche Frage diskutiert wurde, und zwar nicht unter rechtspopulistischen Wirrköpfen, sondern unter nachdenklichen Akademikern, die die Frage umtrieb, was eigentlich nach den Kalendersprüchen kommt.
Damit ist bereits deutlich: Für mich ist Siedlerkolonialismus kein Thema, dem ich mit persönlicher Unbefangenheit begegne. Ich habe in den USA studiert und insgesamt etwa drei Jahre in den USA verbracht, ich habe auch einige Wochen in Israel gelebt, weil meine Partnerin ein Praktikum in Haifa machte, und bevor ich nach Bochum kam, war ich zehn Jahre in England. Da traf ich das Erbe des Siedlerkolonialismus zum Beispiel in Form der Schulkameraden meiner Tochter. Als Historiker lebt man nicht einfach in Hier und Jetzt, sondern fragt nach der Herkunft von Vermögen, Privilegien, Aufenthaltsrechten. Aber wenn man das an Orten macht, die aus Siedlergesellschaften hervorgingen, öffnet sich da bisweilen ein Abgrund.
Da kann man einfach schweigen. Es ist schon erstaunlich, wie lange manche Siedlergesellschaften damit durchgekommen sind. Inzwischen ist das keine Option mehr: „Settler colonialism“ ist ein anerkanntes Thema der historischen Forschung mit einer beständig wachsenden Literatur. Das Hauptseminar bahnt sich einen Weg durch diese Literatur, mit besonderer Beachtung von fünf Siedlergesellschaften auf vier Kontinenten: USA, Australien, Algerien, Zimbabwe und Palästina/Israel. Das sind zwei quicklebendige Gesellschaften mit weißer Bevölkerungsmehrheit, zwei gescheiterte Siedlergesellschaften und ein Land im Krieg. Es ist der Weg, den man als Geschichtswissenschaftler nehmen sollte, wenn man sich mit fremden Ländern konfrontiert sieht: gute Bücher suchen, gründlich lesen und darüber nachdenken. Und dann reden wir darüber.
Das Gespräch ist der Kern eines Hauptseminars. Aber wie redet man angemessen über Siedlerkolonialismus? Eine wissenschaftlich akzeptable Redeweise sollte präzise und nüchtern sein, aber zugleich erlittenes Leid und begangenes Unrecht klar benennen. Sie sollte perspektivieren, ohne zu relativieren. Sie sollte Menschen ansprechen, aber zugleich zum Nachdenken anregen. Da sollte niemand sicher sein, immer garantiert die richtigen Worte zu finden.
So drehte sich ein erheblicher Teil meiner einführenden Bemerkungen heute um das Reden über das Reden. Wir müssen uns immer wieder dafür sensibilisieren, was in unseren Bemerkungen, Sichtweisen, Narrativen mitschwingt – auch und gerade für das, was uns gar nicht bewusst sein mag. Das wird beim hiesigen Thema leicht unangenehm, um nicht zu sagen schmerzhaft, aber da müssen wir durch – auch ich als Dozent. Mein einziger Wunsch an alle TeilnehmerInnen: Bitte gehen Sie davon aus, dass alle Anwesenden sich redlich und in Anerkenntnis der menschlichen Abgründe um angemessene Worte bemühen, jedenfalls so lange, wie Sie nicht das Gegenteil beweisen können.
Wenn man sich als Wissenschaftler in eine tagespolitische Debatte einmischt, dann schwingt meist die Hoffnung mit, dass man mit gesicherten historischen Kenntnissen und Methodenkompetenz klüger diskutieren kann. Aber was heißt das beim hiesigen Thema? Soll man wirklich auf Sachlichkeit setzen, wenn Menschen ihre Würde verlieren, ihr Land oder gar ihr Leben? Es geht beim hiesigen Thema um moralische Koordinatensysteme, die einfach nicht zueinander passen, um Erzählungen, die ohne den Gestus der Anklage oder das Gefühl von Scham nicht kommunizierbar sind, um Erinnerungen, die mit ethnischen Identitäten aufs engste verknüpft sind. Da wirkt die Kühle einer soliden geschichtswissenschaftlichen Diskussion leicht wie ein schrecklich naives Projekt. Aber vielleicht ist ja schon etwas gewonnen, wenn man etwas besser versteht, was da eigentlich passiert ist und was das für andere Menschen bedeutet. Die Zeiten sind vorüber, in denen wir eine einzelne Meistererzählung der weißen Siedler hatten. Ob wir mit mehr als einer Erzählung leben können, muss sich erst noch erweisen.
Nein, ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob wir in dieser Veranstaltung die richtigen Worte finden werden. Aber ich bin mir sehr sicher, dass wir es versuchen müssen.