Am 6. Dezember 2023 hielt Frank Uekötter seine Antrittsvorlesung als Professor für Technik- und Umweltgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Unter dem Titel You Ain’t Seen Nothing Yet: Gesellschaftsgeschichte im 21. Jahrhundert skizzierte er die Vision einer Technik- und Umweltgeschichte, die sich den Herausforderungen unserer Zeit stellt. Er schlug vor, die Beschäftigung mit technischen und ökologischen Herausforderungen in der Vergangenheit als Fortsetzung des Projekts einer Gesellschaftsgeschichte der Moderne zu betreiben. Gesellschaft entsteht nicht nur durch Sprechakte, sondern auch durch Handlungen, Artefakte, ökologische Prozesse – Themen, die im Mittelpunkt der Technik- und Umweltgeschichte stehen. Auf diesem Weg lässt sich der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang auch dort analysieren, wo den Zeitgenossen die Worte fehlten. Zudem hat die Beschäftigung mit technischen und ökologischen Herausforderungen das Potential, das Schreiben von Gesellschaftsgeschichte aus einer nationalstaatlichen Verengung zu befreien.
Die schriftliche Fassung der Vorlesung wird zeitnah zur Veröffentlichung eingereicht. Um das Plädoyer schon jetzt zur Diskussion zu stellen, werden hier zentrale Passagen dokumentiert. Die folgenden Zitate sind zum Teil grammatikalisch angepasst und zur besseren Verständlichkeit gekürzt, entsprechen jedoch inhaltlich der Redefassung. Sie sind für den wissenschaftlichen Gebrauch freigegeben.
Über Technikgeschichte als historische Subdisziplin
„Die Ruhr-Universität ist m.W. die einzige deutsche Universität, die seit ihrer Gründung über eine eigene Professur für Technikgeschichte verfügt. Diese Professur wurde zunächst mit der Denomination Wirtschaft- und Technikgeschichte besetzt, und seit 2006 firmiert sie als Professur für Technik- und Umweltgeschichte. Die Schaffung dieser Professur wurzelte in den Universitätsreformen der sechziger Jahre, sie war zweifellos auch ein Tribut an eine Region, die es ohne moderne Technik in Form von Kohlenbergbau und Schwerindustrie gar nicht gäbe – aber wenn eine Professur über einen Zeitraum von fast sechs Jahrzehnten besteht, dann hat das vielleicht auch damit zu tun, dass es Menschen gab, die diese Professur über die Jahre erfolgreich mit Leben füllten. Es gibt eine Tradition der weithin sichtbaren Technikgeschichte hier in Bochum, und ich werde das meinige tun, diese Tradition in den kommenden Jahren fortzuführen.“
„Ich möchte zunächst feststellen, dass das Fach Technikgeschichte im Grunde genommen ein unmögliches Fach ist. Ähnlich wie Wirtschaftsgeschichte und Sozialgeschichte lebt die Technikgeschichte mit der Situation, dass die Grenzen des Faches ziemlich unscharf sind; jedenfalls deutlich unschärfer als chronologische und geographische Grenzen. Als einheitliches Themenfeld lässt sich ‚die Technik‘ kaum fassen, zu vielfältig sind Artefakte, Anwendungskontexte, intendierte und unintendierte Effekte; und wenn man dieses Themenfeld noch um die Umweltgeschichte erweitert, dann wird es endgültig unübersichtlich. Technikgeschichte ist, wenn man so will, eine undisziplinierte Disziplin, die sich auf Dauer einer kategorialen Beschreibung entzieht.“
„In Deutschland entsprang das Fach Technikgeschichte aus einem disziplinären Urknall, der in den kulturellen Minderwertigkeitskomplexen deutscher Ingenieure im Kaiserreich von 1871 wurzelte: Technikgeschichte als Sinnstiftung einer Profession in den großen Zeiten der deutschen Geisteswissenschaften. Das ist inzwischen eine Weile her, die Legitimation der akademischen Disziplin Technikgeschichte hat sich erweitert und verändert, das Fach steht inzwischen methodisch und organisatorisch auf eigenen Füßen, und so kann man die Geschichte des Faches Technikgeschichte wohl nur dann angemessen beschreiben, wenn man sie als beständige Neuvermessung einer akademischen Leerstelle versteht. Immer wieder hat sich gezeigt: Man braucht eine Technikgeschichte, sowohl im historiographischen Kontext wie auch in weiteren Zusammenhängen, aber es war eben immer wieder eine andere Technikgeschichte, die man brauchte. Und all dies erwähne ich hier aus einem bestimmten Grund: Es ist an der Zeit, den Ort, die Mission und den methodischen Rahmen der Technikgeschichte neu zu denken.“
Über Geschichtswissenschaft in Krisenzeiten
„Wir sind aktuell in einer Situation, die frappierend jener ähnelt, aus der vor mehr als einhundert Jahren der Impuls zur Gründung des Faches Technikgeschichte entsprang: Es verändert etwas in der Welt, in der wir leben, und damit stellen sich Fragen, die durch die etablierten Raster der akademischen Forschung fallen. Inzwischen gehört es zu den Gemeinplätzen des Kommentariats, dass wir in einer Zeit rasanten Wandels leben; und weil ich die vergangenen zehn Jahre in England gelebt habe, weiß ich aus persönlicher Erfahrung, wie leicht ein Land im Strudel sich überlappender Krisen unter Wasser geraten kann. Anders als in früheren Krisenzeiten fehlt es auffallend an einer zugkräftigen alternativen Vision des menschlichen Zusammenlebens. Es gibt offenbar keinen Konsens über die relative Bedeutung der verschiedenen Aspekte und Dimensionen unserer gegenwärtigen Krise.“
„Eine Antrittsvorlesung kann Werbung für das eigene Fach machen, ein Forschungsprogramm vorstellen oder beherzt zu politischen Tagesfragen Stellung beziehen. Sie kann auch versuchen, alle drei Ziele zu bedienen, und das ist es, was mir hier vorschwebt. Das kann man für überambitioniert halten, aber für mich ist es das, was man in diesen Zeiten versuchen sollte. Denn wenn ich von den multiplen Krisen in unserer Gegenwart rede, dann schließt das die Krise des Faches Geschichtswissenschaft mit ein. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Krise in Deutschland schon in ihrer ganzen Dramatik erfasst wird – das Premiumprodukt der deutschen Geschichtswissenschaft, die kritische Erinnerungskultur, erfreut sich schließlich weiterhin einer enormen Beliebtheit. Aber wenn Sie in den angelsächsischen Raum gehen, dann sehen sie Kürzungen von Mitteln und Stellenplänen, die längst an die Substanz gehen: Es gibt schon jetzt eine Menge großer Universitäten in den USA und Großbritannien, die von ihrer Ausstattung her nicht mehr in der Lage sind, ernsthafte Geschichte mit einer gewissen Breite und Vielfalt anzubieten, und Sie finden viele zusammengeschrumpfte Abteilungen für Geschichte, die wohl nur deshalb nicht aufgelöst werden, weil das den Aufwand nicht mehr lohnt. Darüber wird eifrig geklagt, aber auf lange Sicht wird unser Fach nur dann aus der Defensive kommen, wenn es eine offene Debatte über neue Ziele, Inhalte und Methoden zulässt. Und Sie sehen bereits im Titel dieses Vortrags, wohin meine Überlegungen gehen: Es ist an der Zeit, die Frage nach der Gesellschaft wieder ins Zentrum der historischen Forschung zu rücken.“
Über das Verblassen der Bielefelder Gesellschaftsgeschichte
„Es gibt ein paar naheliegende Gründe für das spürbare Verblassen der Bielefelder Gesellschaftsgeschichte, darunter auch einige, die biographischer Natur sind. Entscheidend ist jedoch wohl eine Veränderung, die nicht am Schreibtisch des Hans-Ulrich Wehler oder dessen Umfeld geschah, sondern in der sozialen Realität der Bundesrepublik Deutschland. Es geht um den Verlust des Gegenstands oder genauer: den Verlust der intuitiven Plausibilität eines Gegenstands namens Gesellschaft. Wir können uns nämlich nicht mehr völlig sicher sein, dass es so etwas wie Gesellschaft überhaupt gibt.“
„Es war bekanntlich Margaret Thatcher, die den Spruch prägte: „there is no such thing like society.“ Für Thatcher gab es nur Individuen und ihre Familien, eine Einschätzung, die längst umfassend widerlegt ist: Es gibt tatsächlich zahllose Formen kollektiver Organisation von der Belegschaft eines Konzerns bis zur Chatgruppe, und die Vorstellung, es gäbe nur freie Individuen, war und ist nicht mehr als ein neoliberaler Fiebertraum. Aber Thatchers Zitat fällt in eine Zeit, in der die Vorstellung von Gesellschaft als einem großen zusammenhängenden Ganzen immer schwächer wurde und in der die Flucht in separate Sinnwelten, Arbeitswelten, Wohnwelten zu einer Massenbewegung wurde. In der frühen Bundesrepublik hatte die Vorstellung von Gesellschaft als sozialem Gesamtzusammenhang noch eine ungeheure lebensweltliche Plausibilität: Im Wirtschaftswunderland saßen ja gefühlt alle in einem Boot und mussten sich irgendwie zusammenraufen, wenn das neue Gemeinwesen nicht noch einmal katastrophal Schiffbruch erleiden sollte. Ein Übriges tat die Systemkonkurrenz im Kalten Krieg, die auch hartgesottenen Kapitalisten ein gewisses Maß an gesellschaftlichem Bewusstsein abverlangte; denn wenn man die gesellschaftliche Spaltung zu weit trieb, kamen die Proletarier vielleicht auf dumme Gedanken. So gesehen war Gesellschaftsgeschichte auch ein Projekt der alten Bundesrepublik, getragen von der Selbstverständlichkeit, dass es so etwas wie Gesellschaft tatsächlich gab. Vom Standpunkt des 21. Jahrhundert drängt sich eine andere Perspektive auf. Vielleicht war die Gesellschaft der Bundesrepublik die Ausnahme und die Fragmentierung in Partialgruppen, die sich wechselseitig fremd sind, die historische Regel?“
Über Gesellschaftsgeschichte jenseits der Worte
„Gesellschaft ist ein imaginierter Gesamtzusammenhang, eine ‚imagined community‘; und wie jede Vorstellung dieser Art unterliegt sie einem täglichen Plebiszit. Aber vielleicht sollte man nicht vorbehaltlos in den Abgesang auf Gesellschaft als handlungsprägender Kategorie einstimmen; denn Reden und Schreiben sind nur zwei von mehreren Wegen, auf denen sich gesellschaftliche Zusammenhänge Ausdruck verleihen. Es gibt Gesellschaft auch als gelebte Realität, als ein Produkt von Handlungen und Verhaltensweisen, die gar nicht auf sprachliche Verdichtung angewiesen sind; und die Themen der Technik- und Umweltgeschichte bieten vielfältige Chancen, dieser Form von gelebter Gesellschaft auf die Spur zu kommen. Technische und ökologische Herausforderungen spiegeln nicht nur Gesellschaft, wie es zum Beispiel Pierre Bourdieu mit seinen ‚Feinen Unterschieden‘ aufgezeigt hat – sie stiften auch Gesellschaft, indem sie Verbindungen schaffen, und zwar ganz unabhängig davon, ob die Menschen das wahrhaben wollen oder nicht.“
„Es ist an der Zeit, den Umgang mit technischen und ökologischen Herausforderungen als Teil der ständigen Neuverhandlung von Gesellschaft zu begreifen, in der es um die klassischen Themen der Gesellschaftsgeschichte geht: ökonomische Stellung, soziokultureller Status, Lebenschancen. Jede Autobahn ist Gesellschaftspolitik, jedes Glasfaserkabel, jeder Abwasserkanal: Es sagt eine Menge über eine urbane Gesellschaft aus, wie die Versorgung mit Wasser und die Entsorgung von Abwasser im städtischen Raum organisiert ist. Es geht also bei einer technik- und umwelthistorisch angereicherten Gesellschaftsgeschichte nicht um bislang vernachlässigte Themen, sondern um einen neuen Blick, einen erweiterten Fragehorizont, eine neue Sensibilität für die vielfältigen Interaktionen zwischen Menschen, Ökologien und Technologien. Es geht um die Bereitschaft, Themen in einem großen Gesamtzusammenhang zu diskutieren, und um ein Erkenntnisinteresse, das beim Navigieren in diesen großen Zusammenhängen Orientierung bietet.“
Über Gesellschaftsgeschichte jenseits des nationalstaatlichen Rahmens
„Im Kern war und blieb Gesellschaftsgeschichte ein sehr deutsches Projekt. Vor diesem Hintergrund bieten technik- und umwelthistorische Perspektiven eine Chance für eine Transnationalisierung des Projekts Gesellschaftsgeschichte und einem Ausbruch aus dem vielzitierten Container des Nationalstaats. Technische und ökologische Herausforderungen haben weltweit ein gewisses Maß an Ähnlichkeiten, mit denen man arbeiten kann, und immer wieder entsteht bei solchen Herausforderungen ein Korridor legitimer Handlungsoptionen, der im Laufe der Zeit zunehmend enger wird. Es gibt im welthistorischen Kontext nicht viel, was als Agens der sozialen Disziplinierung auf Augenhöhe mit dem technischen Fortschritt steht.“
Über rechtliche Probleme als zusätzliche Achse der Gesellschaftsgeschichte
„Wir leben in einer Zeit multipler Krisen des Rechtsstaats: durch Globalisierung, Transnationalisierung, Politisierung und strukturelle Überforderung der Gerichte. Zugleich produziert die Dynamik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ständig neue Herausforderung für das Rechtssystem. Wir können diesen Diskussionen mehr historische Tiefenschärfe geben, wenn wir herausarbeiten, dass dieses Spannungsverhältnis so alt ist wie die industrielle Technik selbst. Hier bietet sich ein weites Forschungsfeld, in dem historiographische und tagespolitische Desiderate in die gleiche Richtung weisen, und zudem kann man hier ganz unmittelbar an ein Postulat Hans-Ulrich Wehlers anschließen. Dieser hat nämlich im Epilog zum letzten Band seiner Gesellschaftsgeschichte konzediert, er habe ‚rechtliche Probleme [...] in seiner relativen Autonomie als weitere Achse nicht ernst genug genommen.‘“
Von der gesellschaftlichen Brisanz wissenschaftlicher Expertise
„Ein Themenfeld, das in den kommenden Jahren im Mittelpunkt meiner Forschungsarbeit stehen wird, ist der Umbruch der Landwirtschaft im 20. und 21. Jahrhundert. Mit dem Größenwachstum der Agrarbetriebe, das eng verbunden war mit der technologischen Aufrüstung, entstand ein neues Leitbild des Betriebsleiters, in dem Wissen, insbesondere in Form der Beherrschung komplexer technischer Systeme, ein Eckpfeiler der sozialen Identität wurde. Wer betrieblich überleben wollte, war vielleicht Bauer, vielleicht Grundbesitzer, aber auf alle Fälle war er „Profi“ – was übrigens der Name einer wichtigen agrartechnischen Zeitschrift ist. Und an diese technologische Kompetenz klammerten sich viele Betriebsleiter umso emsiger, als ihre ökonomische Position sich zunehmend auf eine einzelne Station in komplexen Warenketten reduzierte. Die heutige Ernährungswirtschaft hängt an komplexen, oft weltumspannenden Warenketten, und diese Warenketten sollte man vielleicht nicht nur als technologisches und ökonomisches Phänomen betrachten, sondern auch als Gesellschaftspolitik in ihrer vielleicht predatorischsten Form – als nahezu unumschränkte Hegemonie des Marktmechanismus, in der selbst der flüchtigste persönliche Kontakt aufgehoben ist, weil der gesichtslose Transfer von Produkten und Zahlungen völlig ausreicht. Die Folge ist die sehr reale Gefahr einer Auflösung des Sozialen im Ökonomischen, wie sie Karl Polanyi in seinem Buch „The Great Transformation“ beschrieben hat.“
Erneuerung oder Neuausrichtung der Bielefelder Gesellschaftsgeschichte?
„Man täte der Bielefelder Gesellschaftsgeschichte unrecht, wenn man sie als ein festgefügtes, quasi methodisch einbetoniertes Gebilde verstünde. Pierre Bourdieu und seine feinen Unterschiede wurden zum Beispiel erst ziemlich spät, aber dann ohne große Umstände in den Methodenkanon der Gesellschaftsgeschichte aufgenommen. Gesellschaftsgeschichte war immer dynamisch, und sie sollte es bleiben, wenn sie sich in die erwähnte Richtung entwickelt. Natürlich wird jeder anständige Technikhistoriker und jeder Umwelthistoriker auch stets auf den Eigenwert disziplinspezifischen Ansätze und Methoden insistieren, aber mir scheint, dass wir vor intellektuellen Hegemonieansprüche, wie sie ein Hans-Ulrich Wehler bekanntlich mit nicht unbeträchtlichem Selbstbewusstsein formulierte, inzwischen keine Angst mehr haben sollten. In einer Zeit multipler, sich überlappender Krisen werden solche Patentmethoden vom reißenden Strudel unserer Zeit ganz einfach weggespült. Was wir brauchen, sind scharfe, entwicklungsfähige Instrumente, mit denen wir zu neuen Perspektiven und neuen Erzählungen kommen können, und das ist nicht nur ein fachinternes Desiderat. Es geht auch um den Ort der Geschichtswissenschaft in der Öffentlichkeit – und es geht um den Stellenwert der Geschichtswissenschaft in den Experten-Communities, die sie analysiert.“
Über das Verhältnis von Technikgeschichte und technischen Experten
„Es könnte sich lohnen, von Seiten der Technikgeschichte vermehrt auf Techniker aller Art zuzugehen, und das nicht nur aus disziplinärem Eigeninteresse. Wenn wir uns die aktuelle Situation in den Technik- und Naturwissenschaften anschauen, dann stoßen wir immer wieder auf die gleiche Situation. Von der Mobilität bis zur Eindämmung der Pandemie, von der Energiewende bis hin zu den bröckelnden Autobahnbrücken im Sauerland – immer wieder sehen sich Experten mit Problemen konfrontiert, die sich der Behandlung mit dem Instrumentarium ihrer jeweiligen Disziplinen entziehen, und immer wieder dreht sich das Problem darum, dass es da draußen eine Gesellschaft gibt, die schon irgendwie störrisch ist. Mit anderen Worten: Dass Gesellschaft auch durch technische und ökologische Herausforderungen konstituiert wird, ist nicht nur eine historiographische Chance, sondern auch eine Urerfahrung zahlreicher Experten.“
Die Herausforderung der funktionalen Differenzierung von Gesellschaft
„Moderne Gesellschaften brauchen großtechnische Systeme, aber großtechnische Systeme brauchen auch eine Gesellschaft. Genauer gesagt hängen großtechnische Systeme am produktiven Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Gruppen mit jeweils eigenen Handlungsrationalitäten, und wer Niklas Luhmann gelesen hat, erkennt hier ein fundamentales Problem moderner Gesellschaften: die Schwierigkeit und zugleich Notwendigkeit, funktional ausdifferenzierte Subsysteme in eine Resonanz zu bringen, die für die Fortexistenz moderner Gesellschaften unverzichtbar ist. Um es an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen: Um ein Stromnetz zu betreiben, braucht man das Expertenwissen von Elektroingenieuren, die Produkte von Industriekonzernen, die Dienstleistungen von Finanzinstitutionen, die konstruktive Mitarbeit von Konsumenten, die ihre Rechnungen bezahlen, einen Rechtsstaat, der Regelverstöße sanktioniert, und vor allem braucht man Menschen und Institutionen, die allen Unterschieden in Eigenrationalitäten und Interessen zum Trotz irgendwie Wege der Zusammenarbeit finden. Die Luhmann’sche Systemtheorie sensibilisiert für das ungeheure Wagnis moderner Gesellschaften, die letztlich auf Kooperation bei wechselseitigem Unverständnis basieren, und mit dieser Denkfigur kann man historiographisch wie tagespolitisch produktiv arbeiten. Wenn das Copyright für diese Metapher nicht schon anderweitig vergeben wäre, würde ich jetzt vielleicht anfügen, dass es an der Zeit ist, Luhmann vom Kopf auf die Füße zu stellen.“
Über jene, die beim Schreiben einer neuen Gesellschaftsgeschichte mitreden dürfen
„Die Bielefelder Gesellschaftsgeschichte entstand auch im freimütigen gedanklichen Austausch. Es brauchte freilich schon einen gewissen Status, um als intellektuell satisfaktionsfähig zu gelten. Das agonale Prinzip galt für die Herren Professorenkollegen (hier und da gab es seinerzeit auch mal eine Frau), außerdem galt das agonale Prinzip für Nachwuchsleute, die nach einem durchaus darwinistischen Auswahlprozess für würdig erachtet wurden. Das wird bei dem intellektuellen Projekt, das ich hier umrissen habe, anders sein müssen. Als Technik- und Umwelthistoriker merkt man im Prozess der intellektuellen Selbstprüfung immer wieder, dass man doch schon arg Gefangener einer bestimmten Generation ist, und wer wäre besser in der Lage, die Generationalität des eigenen Blicks offenzulegen, als Studierende, die ein paar Jahrzehnte jünger sind. Es sind oft nur wenige Jahre, die für den Blick auf technologische und ökologische Herausforderungen einen dramatischen Unterschied machen, und darüber sollten wir in unseren Lehrveranstaltungen mit jener Offenheit und Direktheit reden, für die das Ruhrgebiet berühmt ist. In diesem Sinne: Liebe Studierende, wenn Sie etwas von mir hören, was mit Ihrer eigenen generationellen Erfahrung nicht in Einklang steht, dann sagen Sie mir das; ich verspreche, dass ich Ihnen aufmerksam zuhören werde.“
Über Gesellschaftsgeschichte als politisches Projekt
„Gesellschaftsgeschichte war immer politisch, aber sie verbündete sich nicht mit politischen Projekten oder gesellschaftlichen Gruppen in einer Weise, die die Verantwortung für das große Ganze, eben die Gesellschaft in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit, zu kompromittieren drohte. Das war damals nicht selbstverständlich, und das ist es heute erst recht nicht, und es ist mir ein Anliegen, in dieser Hinsicht mit aller gebotenen Klarheit Stellung zu beziehen. Nichts hat der historischen Forschung in den vergangenen Jahrzehnten mehr geschadet als die schleichende und manchmal auch ganz offene Verbrüderung mit ihren Untersuchungsobjekten. Ich kann noch nicht einmal erkennen, dass jene, die bei solchen Projekten als historische Akteure im Mittelpunkt standen, wirklich von dieser Verbrüderung profitiert haben; denn die erhöhte Sichtbarkeit wurde nur zu oft erkauft durch ein seltsam eindimensionales Bild von Menschen, die weitaus vielschichtiger, komplizierter, lebendiger waren. Distanz zu halten, die aber nicht zur unterkühlten Apathie werden darf; Interesse zu zeigen an Menschen und Gruppen, ohne unangenehme Themen zu übergehen oder schönzureden; mit klaren Worten zu reden und zu schreiben, ohne ständig darüber nachzudenken, wem das wohl gefallen könnte und wem nicht – das ist es, was gute historische Forschung ausmacht, und das ist der Balanceakt, den wir in einer zukunftsfähigen Technik- und Umweltgeschichte mit gesellschaftsgeschichtlichem Fragehorizont immer wieder neu vollziehen müssen.“